Hit-Karawane in die erhabene Durchgeknalltheit

Es gibt keine Jahreszeiten mehr: Mitten im Sommer spielen von den Ärzten bis zu Willy DeVille und Toto-Gitarrist Steve Lukather alle in Nürnberger Hallen
von  Abendzeitung
Apartes „Schandmaul“: Die Geigerin der gleichnamigen Folkrock-Kapelle, Anna Katharina Kränzlein, begibt sich auf „Neuland“.
Apartes „Schandmaul“: Die Geigerin der gleichnamigen Folkrock-Kapelle, Anna Katharina Kränzlein, begibt sich auf „Neuland“. © Veranstalter

Nürnberg - Es gibt keine Jahreszeiten mehr: Mitten im Sommer spielen von den Ärzten bis zu Willy DeVille und Toto-Gitarrist Steve Lukather alle in Nürnberger Hallen

Eines hat der Pop der Natur schon mal voraus: Es gibt keine Jahreszeiten mehr, eine Aufteilung in Frühjahrs- und Herbstsaison schon gar nicht. Galt das Hallenkonzert im Sommer früher als wirtschaftlich riskant, lässt die Angebotsfülle keine Lücken im Kalender mehr zu. Und so zieht die endlose Musik-Karawane ohne Rücksicht auf die fränkische Sonne über Freilichtbühnen und durch Konzertsäle. Und wie es Zufall und Tourneeplanungen so wollen, wird Nürnberg in den nächsten Wochen ein außergewöhnlich dichtes Drinnen-Programm beschert. Da hat man die Wahl.

Naja, nicht ganz. Denn Die Ärzte aus Berlin etwa, die als führende Halbspötter in Weiß dem Spaßpunk freien Lauf lassen („Jazz ist anders“ bestätigen sie frotzelnd alte Vorurteile), operieren saisonunabhängig erfolgreich. Also ist auch das Konzert in der Arena am 9. Juli schon seit Monaten ausverkauft. Zu den musikalischen Vorbildern von Farin Urlaub und Co zählen – man glaubt es kaum – auch die dick geschminkten Kunstblut- und Comic-Rocker von Kiss, die nochmals auf ihrem Karriereschweif durch die Hallen donnern. „Ein Mammutspektakel der völligen Sinnlosigkeit, das in seiner Durchgeknalltheit etwas Erhabenes hat“, konstatierte ein Berliner Kritiker. Am kommenden Freitag ist die Nürnberger Arena dran.

Möglicherweise sind die Konzerte jenseits der Großereignisse interessanter: Als wandelndes Gespenst des Südstaaten-Souls wimmert sich der 57jährige Willy DeVille, gezeichnet von Verlust und Drogen, überzeugend in die Herzen seiner Fans. Auch auf dem dem neuen Album „Pistola“ sind es die Balladen aus dem Steinbruch des Lebens, die den Reizstrom leiten (Löwensaal, 16.7.).

Vorher setzt dort der irische Blues-Gitarrist Gary Moore, der bei den Rother Bluestagen über Zwischentöne lautstark hinwegwalzte, zur Ehrenrunde an (10.7.). Nachher (17.8.) verlängert die tibetische Weltmusikstimme Yungchen Lhamo die Tibet-Frage mitten in die verordnete Olympia-Euphorie. Womit schon die Randzonen des guten Geschmacks erreicht wären. Bobby McFerrin, der Kehlkopfakrobat mit der XXL-Lässigkeit, kehrt an den Ort seines Triumphes zurück (Meistersingerhalle, 18.7., mit der NDR-Bigband). Edson Cordeiro, das brasilianische Oktavenwiesel, taucht diesmal im Erlanger E-Werk auf (30.7.). Und Anna Katharina Kränzlein, die Geigerin der erfolgreichen Folkrocker Schandmaul (am 26.7. auf Burg Veldenstein), treibt ihr Projekt „Neuland“ voran, wo die Klassik bei der Drehleier landet (27.6., Verband für christliche Popularmusik, Weiltinger Str. 17).

Den Geist der Pogues beschwören die amerikanischen „Jig-Punks“ von Flogging Molly am 1. Juli im Hirsch. Der Musikclub in der Nürnberger Südstadt dient in der nächsten Zeit freilich überwiegend als Legendenstützpunkt. Die zehnköpfige Funkblechband Tower of Power aus den USA gehörten lange zum guten Ton für schneidende Breitseiten (6.7.). Die Hippie-Veteranen Little Feat wurden in 40 Jahren nicht aus dem Rocklexikon gekegelt. Auch nach dem Tode von Lowell George wurde ihr „Eintopf aus amerikanischer Musik“ als Delikatesse herumgereicht (23.7.).

Auch ein Fall fürs Langzeitgedächtnis ist Dickey Betts, der in den 60ern die Westküsten-Band The Allman Brothers Band mitbegründete. Am 16. Juli füllen der 64-Jährige und seine Band The Great Southern eine Festival-Lücke. Weltklasse-Gitarrist Steve Lukather, der durch seinen Ausstieg soeben das Ende von Toto, den Mainstream-Cracks, besiegelte, setzt mit neuen Songs auf „veränderte Zeiten“ (26.7.). Auch Lukathers Landsleute von den Hooters können sich über mangelnde Hit-Ausbeute nicht beklagen. Am 20.7. lassen Eric Bazilian und Rob Hyman nochmal „Johnny B.“ und „All You Zombies“ vorbei defilieren. daer

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