Herzensfreiheit und Horrorszenarien

Ab Donnerstag rollt bis Samstag über das Nürnberger Schauspielhaus die zweite Premierenwelle – mit einem Weimarer und einem fränkischen Klassiker sowie einer „Fachfrau fürs Zynische“
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Eine Weihnachtsgeschichte: Im Kusz’schem Kunst-Fränkisch kommt es in „Lametta“ zur Freistil-Zimmerschlacht.
Marion Bührle Eine Weihnachtsgeschichte: Im Kusz’schem Kunst-Fränkisch kommt es in „Lametta“ zur Freistil-Zimmerschlacht.

Ab Donnerstag rollt bis Samstag über das Nürnberger Schauspielhaus die zweite Premierenwelle – mit einem Weimarer und einem fränkischen Klassiker sowie einer „Fachfrau fürs Zynische“

Die zweite Premierenwelle am neuen Nürnberger Schauspielhaus übt diese Woche den Dreiklang, aus dem Spielpläne oft ihre Harmonie gewinnen: Trauer- und Lustspiel, Klassik und Gegenwartstheater, gemischte Gefühle mit bekannten Autoren. Zwischen der 48-jährigen Sibylle Berg, die sich mit Romanen, Kolumnen und Stücken den vielleicht sogar ernst gemeinten Ruf einer „Fachfrau fürs Zynische“ holte (ihre Sehnsuchts-Groteske vor Großstadt-Kulisse „Nur nachts“ hat ausgerechnet am 11.11. Deutschland-Premiere in der BlueBox), und dem 66-jährigen Fitzgerald Kusz, der mit riesigem Abstand Nürnbergs meistgespielter Zeitgenosse ist (die Uraufführung seiner weihnachtlichen Familien-Rangelei „Lametta“ hat am 13.11. exakt in jenen Kammerspielen Premiere, wo 1976 mit „Schweig, Bub“ die Karriere begann), ergreift Friedrich Schiller in „Kabale und Liebe“ (12.11. Schauspielhaus) auf großer Bühne das Wort für die Freiheit von Herzen und Gedanken.

Der Berliner Gastregisseur Christoph Mehler hat in Nürnberg schon drei Produktionen gestemmt und zuletzt bei Shakespeares „Richard III.“ mit weiblichem Schuft die Meinungen gespalten. Julia Bartolome darf nun als Lady Milford den Buckel ablegen und aufrecht intrigieren, das junge Unglück Luise und Ferdinand wird von Henriette Schmidt und Felix Axel Preißler gespielt. Da es um Standes-Unterschiede, wie sie der junge Schiller um 1782 attackierte, im Jahr 2010 nicht gehen kann und das Ringen um Frauen-Emanzipation doch eher bei CSU-Vorder- und Migranten-Hintergründen akut ist, bleibt als Thema der harte Kern – das Gefühl, das unkontrollierbar sein Ziel sucht. Was der Präsident von Walter (Thomas Klenk) als bedenkenloser Machtmensch dabei repräsentiert, ist der Dreh- und Angelpunkt.

Zwischen Wiener Burg (im Februar war Uraufführung von „Nur nachts“) und dem Deutschen Theater Berlin (am 25.11. ist es dort angekündigt) hat Nürnberg schnell zugegriffen. In der BlueBox, die als wandelbarer Spielraum nach der Eröffnungs-Serie am meisten gerühmt wurde, hat Regisseurin Schirin Khodadadian mit dem Fünf-Personen-Stück hier ihr Debüt. Sie kennt sich aus mit Bergs sibyllinischen Gemeinheiten, hat in Bonn „Die goldenen letzten Jahre“ von ihr uraufgeführt. Wie bei Schiller ist Sehnsucht auch im Berg-Werk die zentrale Energie, allerdings „die bürgerliche Großsehnsucht, einen Menschen zu finden, der einen aushält“. Die Autorin hat eine Versuchsanordnung ersonnen, die ein Paar in Begleitung von zwei leibhaftigen Geistern (unter denen wir uns Ängste vorstellen dürfen) durch Test-Tage schickt. Die Regisseurin verspricht, „zwei Menschen auf dem Weg durch alle Formen von alltäglichen Klischee-Horrorszenarien“ zu sehen, das mache „sehr viel Spaß“. Sie hat sich offenbar infiziert. Thomas Nunner und Elke Wollmann sind der Quell der Schadenfreude.

Horror ist auch aus den Stücken von Fitzgerald Kusz nicht wegzudenken. Zynisch wirkt der Nürnberger aber nur insofern, als er die Realität bei der Salbung zur Kunst stets selbstgewiss im Stillstand verharren lässt. Mit Familie hatten fast alle Theatertexte zu tun, ob der Urlaub („Derhamm is derhamm“), die Reihenhaus-Idylle („Unkraut“) oder hinterbliebene Witwen („Letzter Wille“) in Stellung gebracht wurden. Wo bei „Schweig, Bub“ auch in der 730. Vorstellung die Verwandtschaft rund um den Leberknödel wohlgeordnete Hierarchie einhält, tritt in „Lametta“ die Patchwork-Family zur Freistil-Zimmerschlacht an. Im Kusz'schen Kunst-Fränkisch, das der Erlangerin Adeline Schebesch sicher leichter fällt als dem Schweizer Michael Hochstrasser.

Von Regisseur Frank Behnke ist zu erwarten, dass es ihm nicht um ein nettes Komödchen geht, zumal der Autor die Bezeichnung „bitterböse“ für sein Stück beansprucht. Kusenbergs Chefdramaturg, der nach dieser Premiere ans Hamburger Schauspielhaus wechselt, hat mit „Alte Meister“ schon Thomas Bernhard für Nürnberg neu erfunden. Und Kusz hat nichts dagegen, ernst genommen zu werden. Im Zweifelsfall bekommt er ja bereits am 4. Dezember die lachbare Alternative am Frankfurter Volkstheater. Dieter Stoll

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