Etwas Sinn-Terror würde helfen

Berliner Theater-Report mit Nürnberger Spuren
von  Dieter Stoll

BERLIN/NÜRNBERG Offensichtlich geht mit Musik nicht alles besser, aber manches fällt eben leichter: In der gestreckten Berliner Premieren-Woche wurde überall gesungen. An der Schaubühne halten sich die „Kinder vom Bahnhof Zoo“ mit Hilfestellung von Patrick Wengenroth an Udo Lindenbergs früher Poesie fest. Am Deutschen Theater sucht Nicolas Stemann mit den kombinierten Protest-Schlachtrufen „Aufhören! Schluss jetzt! Lauter!“ per selbstgestricktem Szenen-Liederabend den Kontrast zum kompletten „Faust“, den er in Hamburg schon langfristig für die Salzburger Festspiele probt. Und sogar der grantige „alte Schauspieler“ in Thomas Bernhards „Einfach kompliziert“, von Gert Voss als Minetti-Gegenentwurf nach der Wiener Vorpremiere nun am Berliner Ensemble unter Ovationen angekommen, trällert gerne mal Opernmelodien. Mehr noch, die Regisseure Wengenroth und Stemann stürzen sich singend ins eigene Ensemble – so weit wollte Claus Peymann bei der Hommage zum 80. Geburtstag des Haus-Heiligen nicht gehen. Er beschränkte seine Live-Aktivität darauf, das wortkarge Mädchen, das dem Schimpf-Solisten kurz die Milch vorbeibringt, im Verbeugungs-Jubel auf den Stuhl zu heben.

Im seinem „jelineklosen Jahr“, so gestand der einst am Gostner Hoftheater mit „Werther“ in die Groß-Karriere gestartete Nicolas Stemann bei den Endproben, habe er die Texte der sperrigen Nobelpreisträgerin schwer vermisst. Er hätte sie mühelos unterbringen können im aufwändigen Projekt „12 letzte Lieder“, wo die Abschieds-Melancholie gleich zum Anfang mit globalen Floskeln dran ist. Neben Mubarak grüßen da Käs- und Kachelmann aus der weltumspannenden Rausschmeißer-Disco. Über dem Dschungel-Camp führt die Friedrichstadt-Revuetreppe ins sichere Nichts jener strengen Frage, die zwischen Trampolin und tiefem Sinn sortiert.

Ein Ensemble rockt Depression, Margit Bendokat trägt abstruse Geschichten vor und für die videogestützte Wiedergeburt des Dadaismus wäre so schon mal ein Schritt getan. Der Spott über Erwartungen ans Theater nimmt dem pikierten Teil des Publikums die Argumente umweglos aus dem Kopf, der mit dramaturgischen Schlaglöchern durchsetzte Weg schlängelt sich zielsicher zur Parole „Freiheit der Kunst gegen den Terror des Sinns“. Ironie und Mitsingen hilft sehr bei der Einordnung solcher Manifeste. Ein unverschämt offener Abend, der aus dem Schatten von Stemanns „Kontrakte des Kaufmanns“ wuchert und ihm so doch Elfriede, Freude, Eierkuchen bringt.

Acht Jahre liegen zwischen der Zeitgeist-Chronik der Christiane F. (1978 Erstauflage des Bestsellers mit alsbald nachgeschobener Kino-Version) und Bernhards für „1 Herr, 1 Kind, 1 Dekoration“ wie ein vorzeitiges Echo aufs eigene Gesamtwerk uraufgeführten Zeitvernichtungs-Satire (1986 am Schiller-Theater, naturgemäß mit Bernhard Minetti), aber man vermutet Jahrhunderte. Wäre da nicht die Ratlosigkeit, die sich jetzt wie eine Dunstabzugs-Haube über beide Texte gesenkt hat.

Nach der Papierform musste „Einfach kompliziert“ von 2011 zumindest den Abglanz einer Sternstunde bieten. Der authentischste aller Bernhard-Regisseure mit dem womöglich einzigen Darsteller, dem jeder sofort eine Alternative zum Minetti-Monument zutraut.Statt des faszinierenden Mümmel-Pathos, das die Urfassung zum dreisätzigen Greisen-Lamento machte, gibt es bei Voss den Großschauspieler, der sich artifiziell zum Provinz-Oldie verkrümmt. Wenn er Mäuse und Metaphern jagt ist dieser Sonderling nun ein Kauz der Luxusklasse. Wie er die Papp-Krone von „Richard III.“ als Souvenir „blutig“ auf den Kopf drückt, mit angehobener Schulter und zuckenden Augenbrauen die ganze Klassik-Rezeption früher Jahre von der Bühne kickt – das ist Burgschauspiel mit mehrstöckigem Boden.

„Wir dürfen nicht an die theatralische Kunst denken, wenn wir spielen“, sagt die Bernhard-Figur. Aber bei Voss denkt man dauernd daran. Zumal dem Regisseur Claus Peymann zu seinem Vorzugs-Autor offenbar nichts Gleichwertiges mehr einfällt. Er lässt neckische Schattenspiele machen und fortwährend mit den Armen fuchteln, als könnte auf diese Weise Bewegung in zäh gewordene Sprachgewalt kommen. Wer Frank Behnkes spielerisch leichte Inszenierungen von „Alte Meister“ und „Heldenplatz“ in Nürnberg sah, möchte den Dramatiker Bernhard retten, indem er ihn seinen Entdeckern von dazumal endlich entwindet.


Der Griff nach der Junkie-Doku von „Christiane F.“ steht nicht unter Poesie-Druck. Patrick Wengenroth inszenierte das an der Schaubühne so, als ob ihm beim Umzug unerwartet der alte Bestseller aus dem Regal gefallen sei. Mit fünf Darstellern, die historische Texte der „Kinder vom Bahnhof Zoo“ im offenen Rollenspiel vorführen, entsteht ein amüsierter Seitenblick auf jene Zeit, da Westberlin als Zentrum aller Moralfreiheit galt und David Bowie mit der Ausrufung von „Helden für einen Tag“ die philosophische Speerspitze war.


Das Ensemble spielt die nur ein paar Bushaltestellen entfernte Exotik von einst toll – und legt das Buch dann aufgekratzt beiseite. Mit Voss beim Bernhard-Text verbindet sie eins: Hier wie dort wird nicht neu gedacht, nur genießerisch nachgeschmeckt. Etwas Sinn-Terror hätte helfen können.

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