Ein Kessel Buntes, wo jeder etwas finden kann

AZ-Serie Teil 3: Wie Nürnbergs Schauspiel (zeitweise auch für Fürth) am Fließband produzierte und keine Geschmacksrichtung auslassen wollte.
von  Abendzeitung
Nach dem Sonderfall “Schweig, Bub“ der Spitzenreiter von 50 Jahren Schauspielhaus: Die Schlager-Show „Sekretärinnen“ kam auf 180 Vorstellungen.
Nach dem Sonderfall “Schweig, Bub“ der Spitzenreiter von 50 Jahren Schauspielhaus: Die Schlager-Show „Sekretärinnen“ kam auf 180 Vorstellungen. © AZ-Archiv

NÜRNBERG - AZ-Serie Teil 3: Wie Nürnbergs Schauspiel (zeitweise auch für Fürth) am Fließband produzierte und keine Geschmacksrichtung auslassen wollte.

Mag sein, dass sich Geschichte nicht wiederholt, aber Geschichten sind einander manchmal doch sehr ähnlich. Als die Euphorie des Neubeginns nach der Eröffnungs-Saison des Schauspielhauses allmählich so abflaute wie später der Besucherstrom beim Neuen Museum im zweiten Jahr des Bestehens, wunderte sich mancher Zuschauer und wohl jeder Schauspieler über die Fließband-Routine, in die er da geraten war. Ein Ensemble, das freilich ungefähr die dreifache Anzahl der heutigen Akteure hatte, probte manchmal vier Produktionen nebeneinander und warf alsbald im Zehn-Tages-Takt Premieren aus. Die Mengenlehre kam mit mindestens zwei stichhaltigen Begründungen. Neben dem übergroßen Haus (gut 900 Plätze) und den Kammerspielen (200) war auch das benachbarte Fürther Theater zu bespielen, denn bis 1970 firmierte die Kulturfabrik im Städtebund und ein Großteil der Aufführungen wurde komplett hin und her transportiert. Was für Schauspieler immerhin intensives Rollenstudium bei ausgiebigen Straßenbahnfahrten auf der Strecke Bauernfeindstraße-Billinganlage ermöglichte.

Vor allem: Zu dieser Zeit hatte das Fernsehen noch nicht die Herrschaft über die familiäre Abendgestaltung, das Kino galt vielen als fragwürdig, also fiel dem Theater neben dem gern beschworenen Bildungsauftrag auch das noch nicht so betitelte Entertainment zu. Das Schauspielhaus war Brutstätte für alle Bildungsebenen und Stimmungslagen, dort wurden Klassiker respektvoll präsentiert, neue Autoren oft mit spitzen Fingern auf die Bühne gestellt, Lustspiele durch den Gag-Slalom gejagt. Ein Kessel Buntes, aber gelegentlich gab es schon hitzige Debatten darüber, was denn zu erwarten sei von der hochsubventionierten Kunst im Abonnement.

Eine Debatte über „Ekeltheater", Werktreue oder Provokationslust stand in den Anfangs-Jahren des Schauspielhauses nicht auf der Tagesordnung. Der erste echte Nacktauftritt ließ auf sich warten, die Könige von William Shakespeare und Schiller waren alle korrekt gekleidet für ihre stubenrein dröhnenden Rezitationen. Man diskutierte über ebenso regelmäßig wie rätselhaft erscheinende Stücke des tatsächlich so genannten „absurden Theaters", ließ also Ionescos „Fußgänger der Luft" und Becketts „Endspiel“ an Mülltonnen ebenso passieren wie die meist pünktlich ein Jahr nach der Uraufführung nachgespielten Werke der Schweizer Groß-Dramatiker Max Frisch („Andorra") und Friedrich Dürrenmatt („Die Physiker"). Auch Peter Handke (statt „Publikumsbeschimpfung" aber doch lieber „Kaspar" und 30 Jahre danach „Die Stunde, da wir nichts voneinander wussten") und der spätere Nobelpreisträger Harold Pinter ( „Der Hausmeister") kamen wohldosiert vor. Auch ein junger tschechischer Poet namens Vaclav Havel, weit entfernt von der Staatspräsidenten-Würde, lag mit der Weltpolitik-Parabel „Das Gartenfest" gut im Rennen. Da blieben die Nürnberger Spielpläne ganz auf der Linie der anderen deutschen Bühnen, die zwischen dem poetischen „Faust"-Augenblick „Verweile doch, du bist so schön" und dem Fummel-Frohsinn mit „Charleys Tante" eingefroren schienen. Ergänzt mit der Eleganz des britisch-amerikanischen Boulevardtheaters, wo etwa bei „Barfuß im Park" oder der Saftschubsen-Komödie „Boeing-Boeing" das Theater schneller war als das Kino. Und durch das bei deutschen Autoren nicht recht funktionierende Dialogfunkeln mit Albees Schocker „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?", der auch in Nürnberg wie ein Blitz einschlug, noch ehe Liz Taylor und Richard Burton auf der Leinwand ihre eigenen Szenen einer Ehe draus machten.

Im Umgang mit Bertolt Brecht, der im Weltbild der Konservativen in Bayern nicht Poet mit Tendenz zum Klassiker sein durfte, weil er doch Kommunist in der DDR war, hat sich Nürnbergs Theater im Rückblick nichts vorzuwerfen. Alle großen Stücke, nicht nur die evergreene „Dreigroschenoper" (von der es zwischen 1959 und 2009 vier Produktionen gab), wurden an diversen Gesinnungszensur-Bestrebungen vorbei inszeniert: „Puntila" und „Mann ist Mann", „Mutter Courage" und „Schweyk im Zweiten Weltkrieg", später die wilderen, weniger siebengescheiten Jugendwerke „Baal" und „Trommeln in der Nacht", was Hansjörg Utzerath und Raymund Richter zu Erfolgen machten.

Bei Rolf Hochhuth hatte die Nürnberger ihr fränkischer Mut gegen bayerische Kultur-Kommandos vorübergehend verlassen. Zwar gab es mit „Soldaten" und „Guerillas" später zwei Stücke des bis heute nicht zu Unrecht umstrittenen Autors, aber sein wichtigstes, die Papst-Attacke „Der Stellvertreter" mit der Frage nach der Haltung von Pius XII. zu den Nazis, wurde im stillen Einvernehmen mit allen anderen Bühnen des Freistaats ausgeklammert. Die Bischofskonferenz hatte an allen Hebeln gezogen.

Was den Amüsierfaktor betrifft, teilten sich in Nürnberg schnell die Meinungen. Darf oder muss subventionierte Kunst auch den direkten Weg zum Jux suchen? Ausgerechnet in den Kammerspielen kochte der Konflikt zur verbissenen Meinungsschlacht hoch. Das als Studio für anspruchsvolle Texte eröffnete Haus konnte das Profil nicht recht ausfüllen, weil die Zuschauer keine Lust auf halbherziges Experimentieren hatten. Komödien sollten für Kasse sorgen, was die Kammer zwangsläufig zur Wundertüte machte. Jeder Griff eine Überraschung. Dass dort für lange Zeit das Mini-Musical „Irma la Douce" (intern auch „Irmele, tu's!" genannt) mit dem temperamentvollen Operetten-Paar Freia Lahn/Kurt Huemer bei hundert Vorstellungen zum größten Erfolg wurde, verbitterte nur die Puristen. Es war, inszeniert und moderiert von Rolf Lansky, ein großer Spaß zur Vorstudie auf den noch nicht gedrehten Billy-Wilder-Film mit Shirley McLaine.

Überhaupt, Musiktheater im Schauspiel! Das war und bleibt bis heute eine der reizvollsten Herausforderungen, mit ungewohntem Aufwand immer nah am Rand des Scheiterns, aber bei Gelingen Garant für volle Häuser.

In den Sechzigern kam da von Schlager-Komponist Lothar Olias die viele Späßchen aus dem „Schuh des Manitu" vorwegnehmende Western-Parodie „Prairie Saloon" mit Querverweis auf rauchende Colts im Ka-Li. Die laszive Bardame Mississippi-Lili, die in Berlin die junge Ingrid van Bergen gab, gurrte in Nürnberg das Ex-Christkind Sofie Keeser. Zum „Duell um Aimee" kehrte Ufa-Altstar Ilse Werner singend und pfeifend auf die Bühne zurück und vom Berliner Comeback des Insulaner-Humors am „Schwarzen Jahrmarkt" gelang unter Günther Büchs Händchen ein beachtliches Duplikat.

Es ging aber auch mit höherem Anspruch. Stavros Doufexis, dessen Tochter Stella heute ein internationaler Opernstar ist, nahm den Klassiker Aristophanes als Revue-Rohstoff ( „Die Reiter", „Die Vögel") und holte die als Deutschlands Jazzsängerin Nr. 1 geltende Inge Brandenburg für die Antikriegs-Show „Vietrock". Die Rockband Improved Sound Limited um Axel Linstädt (heute Musik-Chef des BR) bekam mit Autor H.C. Artmann den Auftrag fürs Shakespeare-Musical um „Zwei Herren aus Verona", was halbwegs scheiterte. Dafür zahlte sich der Mut von Intendant Burkhard Mauer aus, der als einer der Ersten das GRIPS-Musical „Linie 1" nachspielen ließ, obwohl ihn alle davor warnten, weil doch die Nürnberger noch gar nicht wussten, wie es in einer U-Bahn zugeht. Es wurde mit 130 Vorstellungen der größte Erfolg in diesem Genre - bis Wittenbrinks Song-Revue „Sekretärinnen" kam und bis Juli 2009 insgesamt 180 Häuser füllte.

Dazwischen bediente man sich an „The Black Rider" und „Struwwelpeter", nachdem Utzerath bei seiner ätzenden Verlegung der Operette „Viktoria und ihr Husar" in die Schützengräben des Weltkriegs auf die Empörung aller Schunkel-Freunde gestoßen war.

Heute, da die Zahl der Premieren drastisch geschrumpft und die Auswahl der Stücke (etwas) strenger geworden ist, bleibt der Drang zum Show-Effekt dennoch ungebrochen. Vorige Saison waren das Elke Wollmann als „Piaf" und eine fröhliche Herren-Runde in „Ladies Night“, im Mai 2010 inszeniert Klaus Kusenberg die singenden „Blutsbrüder" als Selbst-Rausschmeißer aus der Tafelhalle. Sie sollen das Publikum gut gelaunt an den Richard-Wagner-Platz zurück geleiten. Dieter Stoll

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