Dürers Gruß aus dem Depot

Germanisches: »100 Meisterzeichnungen« als unbekannte Glanzstücke aus Erlanger Bibliothek
Nürnbergs späterer und bislang einziger Weltkünstler blickt sich zermürbt im Spiegel an. Ob es ein Melancholie-Schub oder doch nur die Spätfolgen abendlicher Trinkfreuden war, lässt sich beim Selbstporträt des 20-jährigen Albrecht Dürer nicht genau rekonstruieren. Faszinierend ist die Zeichnung so oder so. Im Germanischen Nationalmuseum kann man die Nahaufnahme eines neuen Selbstbewusstseins in in der kostbaren 50-Lux-Atmosphäre für lichtempfindliche Fälle ab sofort entdecken. Auf der Rückseite einer ausgeformten „Heiligen Familie“ hängt das Blatt im Zentrum der „100 Meisterzeichnungen“ aus dem Depot der Universität Erlangen. Das Gute, so nah. Für Rainer Schoch, Graphik-Experte und Vize-Chef des Hauses, der zum 30. April in den Ruhestand geht, „ein Geschenk“ zum Abschied. Und was für eines.
„Faszination Meisterwerk“
Das letzte Exponat, eine Landschaft von Albrecht Altdorfer, gesellte sich gestern Abend von der Colmarer Grunewald-Ausstellung zu den anderen 99 Meisterzeichnungen und mag die international ausstrahlende Bedeutung dieser Sammlung betonen. Die hat ihren Ursprung im 17. Jahrhundert in Nürnberg (Graf Septimius Jörges könnte der Auslöser gewesen sein), wanderte erst ins Schloss der Ansbacher Markgrafen und mit den Preußen dann nach Erlangen: 1600 Blätter, die teilweise ursprünglich Studienobjekte für Werkstätten waren und die Entwicklung altdeutscher Kunst exemplarisch auffädeln: Cranach, Holbein, Altdorfer, Pencz, Pleydenwurff – die passende Ergänzung zur „Faszination Meisterwerk“ in der Großen Halle nebenan. Man muss sich nicht wundern, dass die Getty-Foundation reichlich Forschungsgelder springen ließ, um diese wunderbare Sammlung aus Depot-Tiefen ins Bewusstsein zu befördern, mit einer Präsentation in Los Angeles als Höhepunkt.
„Man muss sich hineinschauen“ in diese bemerkenswerte Präsentation, fordert Generaldirektor Ulrich Großmann. Dann entdeckt man lauter kleine Plattformen für Experimentierlust und Motivsuche. Das Nürnberger Aquarell einer hinreißenden Ideallandschaft und der 130 Zentimeter hohe Entwurf eines Tischbrunnens von Dürer-Schwiegervater Hans Frey, wo sich Adelige einen bäuerlichen Wasserspeier als Spottfigur leisteten, ein grimassierender Kopf und ein Bär (nein, nicht Flocke), Hunde-Studien (von Holbein) und Paradies-Vögel, die von Ferne aus dem Nachlass von Oskar Koller zu kommen scheinen.
Noch 10 weitere, gleichwertige Ausstellungen hätte er damit bestücken können, betont Schoch. Wenn der bisherige Rhythmus der Präsentation allerdings beibehalten wird, sollte man sich sputen: Das letzte Mal waren diese Raritäten vor 30 Jahren zu sehen. Andreas Radlmaier
Germanisches Nationalmuseum (Kartäusergasse 1): 100 Meisterzeichnungen. Eröffnung: 5. März, 19 Uhr; bis 8. Juni, Di-So 10-18 Uhr, Mi bis 20 Uhr. Katalog: 29 Euro