Dieser Polizist schoss auf den Ansbacher Amokläufer
Hauptkommissar Peter Gerlach stoppte den irren Täter. Jetzt erzählt er erstmals und exklusiv in der AZ, wie er immer noch mit den schrecklichen Erlebnissen zu kämpfen hat
ANSBACH/LENGGRIES Im oberbayerischen Lenggries wurde gestern ein Haus der Stiftung der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG) eingeweiht. Es steht Polizisten zur Verfügung, die während ihrer Arbeit verletzt oder traumatisiert wurden. Der Ansbacher Polizeihauptkommissar Peter Gerlach (45), seine Frau Claudia und die Söhne (10, 16) kamen hier vor kurzem zur Ruhe. Gerlach hat am 17. September 2009 im Ansbacher Gymnasium den Amokläufer Georg R. (19) mit mehreren Schüssen gestoppt. Und so verhindert, dass Menschen getötet wurden.
Ein paar Nächte danach begann sein Trauma. Der Ansbacher Dienstgruppenleiter befand sich in einer schwierigen Situation: „Ich bin Polizist, Vorgesetzter, Ehemann und Vater. Doch plötzlich brauchte ich selbst Hilfe!“ Er spricht in der AZ zum ersten Mal öffentlich darüber, wie es ihm nach den Schüssen ging.
AZ: Wie war die letzte Nacht?
PETER GERLACH: Es wird besser. Ich träumte nach dem Amoklauf vor allem von früheren Einsätzen, die ich längst bewältigt zu haben glaubte: Ermordete Menschen, tote Babys, durch Unfälle verstümmelte Körper. Für mich zu erkennen, dass ich professionelle Hilfe brauchte, war ein Schritt, der mir sehr schwer gefallen ist und wirklich Überwindung kostete.
Sie sind sicherlich den Einsatz damals tausend Mal durchgegangen.
Natürlich. Immer mit der Frage: Was hättest du anders, besser machen können.
Aber Sie haben doch alles richtig gemacht?
Das hilft mir auch, so dass ich in dieser Sache mit mir selbst im Reinen bin. Die Rechtmäßigkeit meiner Handlung wurde auch juristisch festgestellt.
„Mein Gehirn hat auf Notbetrieb umgeschaltet“
Was ging in Ihnen vor?
Ich habe nur noch funktioniert. Kein Zittern, keine Angst, keine Nervosität – nichts. Ich war emotional taub. Das Gehirn schaltet in dieser Extremsituation auf Notbetrieb um. Das funktioniert noch wie beim Steinzeitmenschen vor dem Säbelzahntiger. Am nächsten Morgen, als ich die Zeitung las, waren die Emotionen da. Ich konnte meine Tränen nicht mehr zurückhalten. Wie viel Leid dieser Mensch angerichtet hat!
Sie und Ihre Kollegin waren die ersten vor Ort. Wie konnten Sie in einer völlig unbekannten Situation so sicher und schnell handeln?
Zum einen hatte ich eine Kollegin, auf die ich mich blind verlassen konnte. Ich trage meine Schussweste aus Überzeugung und nehme Fortbildung sehr ernst. Im Training kann man verschiedene Situationen simulieren, die nicht so alltäglich sind. Die aber, wie der Amoklauf zeigt, immer und überall passieren können. Und Glück gehört auch dazu. Ich muss die Waffe sicher handhaben können, ohne darüber nachzudenken. Wenn ich in diesem Moment überlegt hätte: „Schieße ich oder nicht?“, dann wäre es zu spät gewesen. Ich habe geschossen! Und später bin ich das x-mal durchgegangen. Was hätte ich anders machen können, hätte ich ihn anders ausschalten können.
Aber für viele sind Sie ein Held: Sie haben den Täter ausgeschaltet, es wurde niemand getötet und niemand mehr verletzt...
Ich bin kein Held! Ich bin Polizist mit Leib und Seele und wurde gut ausgebildet. Aber die Ausbildung endete bisher mit dem Schuss. Jedoch langsam beginnt man auch damit, die Kollegen auf ein Leben nach einer Extremsituation vorzubereiten. Denn nach der Schussabgabe sagt dir dein Körper, wo es langgeht.
Was passierte mit Ihnen?
Albträume, Kopfschmerzen, Momente, in denen mich irgendetwas an den Einsatz erinnerte – und ich war mit allen Emotionen wieder mitten drin. Das wird langsam besser. Ich wollte anfangs, dass niemand weiß, dass ich geschossen habe. Meinem kleinen Sohn verheimlichte ich es. Das war ein großer Fehler. Denn plötzlich betete er nicht mehr. Er sagte, wenn es einen Gott gäbe, dann hätte er den Amoklauf nicht zugelassen. Da erst erzählte ich ihm alles – und dass es eben doch jemanden gibt, der schützend seine Hand über mich gehalten hat. Seitdem betet er wieder.
Ihre Familie hat mitgelitten.
Vor allem meine Frau. Sie hat so viel stemmen müssen. Da macht es schon wütend, wenn sie eine Psychotherapie beantragt und ihre Kasse diese erst ablehnt. Begründung: Sie sei ja nicht am Amoklauf beteiligt gewesen.
Hilft Ihnen Psychotherapie?
Sehr. Es gibt Techniken, die Bilder zu kontrollieren. Ein Bild, das immer wieder hochkam, war ein totes Baby: die Hände des Notarztes, auf denen der Säugling lag, die Reanimationsspritze in sein Herz. Jetzt habe ich gedanklich einen Tresor, in den ich das Bild stecke und abschließe. Ich bestimme, wann es herauskommt. Es ist nicht mehr der Teufel aus der Schachtel, der einfach unkontrolliert herausspringt.
Wann sprang der denn zuletzt?
Ich war wieder im Gymnasium, hatte ein Gespräch mit dem Rektor. Plötzlich läutete die Pausenglocke – der gleiche Ton, der damals dauernd als Alarmzeichen schrillte.
Wie reagieren Ihre Kollegen auf Ihr Trauma? Gibt es nicht auch solche, die meinem, nach fast einem Jahr müsse es jetzt mal gut sein?
Sicherlich. Aber viele andere kamen zu mir und erzählten mir von ihren Bildern, die sie quälen. Sie fragen mich, wo sie sich Hilfe holen können.
Bietet die nicht das Polizeipräsidium?
Wir sind in Sachen Nachbehandlung schon auf einem guten Weg, eine Grundversorgung wird angeboten. All das, was mir gut geholfen hat, suchte ich mir selbst oder erhielt es zufällig. Die Familien kommen in der Nachsorge immer noch viel zu kurz. Am besten fühle ich mich in einer Selbsthilfegruppe aufgehoben. Auch die Zeit im Stiftungs-Haus war sehr gut für mich und meine Familie. Was ich mir wünschen würde, wäre ein Art Betreuer vom Präsidium, der einem zur Seite steht, wenn Ärger mit Behörden, Krankenkassen oder auch die Betreuung der Familie zu regeln ist. Es müsste jedoch auch jemand sein, der weiß, wovon er redet.
„Ich war nur einen Wimpernschlag vom Tod entfernt“
Hat sich das Erlebte auf Ihren Beruf ausgewirkt?
Ich habe darum gebeten, mich jetzt in der zweiten Reihe einzusetzen. Die Entscheidung war schwierig. Denn ich bin gern draußen, habe gern unmittelbaren Kontakt zu den Menschen. Aber ich habe auch eine Familie und Verantwortung. Auch wenn ich daran nicht gerne denke: Ich war nur einen Wimpernschlag vom Tod entfernt.
Haben Sie eigentlich Dankesschreiben bekommen?
Von einigen Eltern kam persönlich viel Dank. Einige fielen mir um den Hals, das hat mich sehr berührt. Außerdem habe ich einen Brief einer Ansbacherin in einer Info-Zeitung der Polizei gelesen.
Wurden Sie beide geehrt, ausgezeichnet, belobigt?
Nein. Es gab zwar Lob von vielen Seiten. Es ist nicht so, dass eine Ehrung oder Auszeichnung etwas besser machen würde. Aber es wäre eine Anerkennung für die Arbeit der Ansbacher Polizei beim Amoklauf. Es waren viele Kollegen, die ihren Job ausgezeichnet erledigt haben.
Es kam gar nichts?
Der Landespolizeipräsident hat mir einen Füller geschenkt.
Einen Füller?
Ja. Samt Kugelschreiber und drei Patronen.
Interview: Susanne Will
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