Dieser Nürnberger war der erste Hippie der Welt

August Engelhardt gründete im Jahre 1902 eine Natursekte auf der Südsee-Insel Kabakon: Man huldigte Nacktheit, freier Liebe - und der heiligen Kokosnuss...
von  Abendzeitung
Diese Reproduktion eines Fotos aus dem Jahr 1906 zeigt den Sektengründer August Engelhardt (stehend) mit dem Musiker Max Lützow auf der Insel Kabakon.
Diese Reproduktion eines Fotos aus dem Jahr 1906 zeigt den Sektengründer August Engelhardt (stehend) mit dem Musiker Max Lützow auf der Insel Kabakon. © dpa

August Engelhardt gründete im Jahre 1902 eine Natursekte auf der Südsee-Insel Kabakon: Man huldigte Nacktheit, freier Liebe - und der heiligen Kokosnuss...

NÜRNBERG/KABAKON Alles beginnt mit einer vergilbten Postkarte. Der Briefmarkensammler Dieter Klein findet sie Mitte der 1980er Jahre auf einer Auktion und ist sofort fasziniert. „Wir leben hier permanent nackt und genießen fast nur Früchte, vor allem die heilige Kokosnuss“, steht in schwarzer Tinte darauf, „was sind Städte: Felsengrabanlagen, Friedhöfe des Glücks und Lebens, gegen mein palmengeschmücktes, ozeanumbraustes, sonnendurchglühtes Eiland?! Kabakon ist ein Paradies, das ich kaum je mehr verlassen werde. Wie hasse ich Kleider!“ Es ist ein Neujahrsgruß von einer kleinen Insel im Bismarck-Archipel, abgeschickt an Heiligabend 1904. Der Absender ist ein Mann namens August Engelhardt.

Dieter Klein wird neugierig. Jahrelang recherchiert der pensionierte Grundschullehrer, schreibt Briefe an Professoren, reist sogar auf den Bismarck-Archipel. Nach und nach trägt er so die Geschichte des Mannes zusammen, den Hermann Hiery, Spezialist für deutsche Kolonialgeschichte an der Uni Bayreuth, als den „ersten deutschen Hippie“ bezeichnen wird.

Engelhardt wird 1877 in Nürnberg geboren. Es ist die Zeit der Industrialisierung, aber der Apothekerlehrling rebelliert. Er schließt sich einem Vegetarier-Verein an, interessiert sich für Heilfasten und Rohkost. „Von heute aus gesehen, war er damit eigentlich seiner Zeit voraus“, urteilt Sven Mönter, Historiker der Uni von Auckland in Neuseeland, der vor kurzem seine Abschlussarbeit über Engelhardt veröffentlicht hat. Schließlich begeistert sich der Franke für eine neue Philosophie aus den USA, den so genannten Kokovorismus. Das Konzept ist einfach: Wer sich ausschließlich von Kokosnuss ernährt, der wird Erleuchtung finden.

Der Nachwelt hinterließ er sein „Kokosevangelium“

Mit seinem Freund, dem Schriftsteller August Bethmann, schreibt Engelhardt ein Buch über den Kokovorismus: das „Neue Evangelium“. Es wird fünfmal aufgelegt werden. „Der Kokovore empfängt alles direkt aus den Händen seines Gottes, der gutherzigen Sonne“, schreibt das Duo.

1902 macht Engelhardt Ernst. An Bord eines Reichspostdampfers fährt der 24-Jährige in das heutige Papua-Neuguinea, damals teilweise deutsche Kolonie. Dort kauft er die kleine Insel Kabakon nahe des Bismarckarchipels. Hier soll seine Kokovorismus-Kolonie entstehen, der so genannte Sonnenorden. Per Brief lockt er dafür Anhänger aus dem fernen Europa auf seine Insel: „Kommt Freunde! Erlöst den Einsamen vom Schreiben durch Eurer Zungen trauten Ton!“ Und er hat Erfolg. „Um die 30 Menschen folgen Engelhardt innerhalb der nächsten zehn Jahre nach Kabakon“, sagt Historiker Mönter. Sie alle wollen den Traum der Südsee-Kommune leben: Nacktheit und freie Liebe, essen, was auf den Bäumen wächst, und philosophieren im Schatten der Palmen.

Doch die Idylle trügt. Malaria und Mangelernährung machen den Deutschen zu schaffen. Innerhalb weniger Jahre sterben fünf Jünger des Sonnenordens. Dazu kommen Eifersüchteleien. „Die Gruppe ist auch aufgrund der polygamen Struktur auseinandergefallen“, sagt der Bayreuther Forscher Hiery. „Unter den ungeklärten Todesfällen war mindestens ein Mord.“ Engelhardt stirbt im Mai 1919, völlig ausgezehrt. Die letzten Jahre verbrachte er alleine auf seiner Insel. Mönter: „1909 hat er sich endgültig vom Sonnenorden verabschiedet und sich von da an nur noch als Schriftsteller und Botaniker gesehen.“

Der Nachwelt hinterlässt er noch sein „Kokosevangelium“, das heute tief im Archiv des Germanischen Nationalmuseums vergraben liegen soll. Dort sind die wichtigsten Thesen seiner Weltanschauung zusammenfasst. „Die Kokospalme ist das pflanzliche Ebenbild Gottes“, schrieb Engelhardt. „Der Kokovorismus ist der Weg zur vollen Erlösung von Schmerz, Leid und Tod.“ Christina Horsten

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