Diese Fränkin kämpft gegen einen Pharma-Konzern

Gisela Clerc (67) glaubt: Wegen eines Schwangerschaftstests ist ihre Tochter Birgit behindert.
KULMBACH Gisela Clerc war glücklich: „Der kerngesunde Junge kommt am 6. Januar zur Welt“, sagte der Arzt zu der werdenden Mutter. Doch das zweite Kind der heute 67-jährigen Kulmbacherin war ein Mädchen – und Birgit war todkrank: Die linke Hand verkrüppelt, mehrfache Herzfehler, das linke Ohr und das linke Auge geschädigt. Für die Eltern begann ein Kampf um das Leben der Kleinen. Jetzt – über 40 Jahre später – kämpft die Mutter wieder. Gegen den Pharmariesen Bayer und für ihr Recht. Denn sie ist sich sicher: „Das Medikament Duogynon ist schuld an den Missbildungen.“
Gisela Clerc hatte das Mittel in der Frühschwangerschaft genommen, bis Mitte der 70er Jahre ein verbreiteter Schwangerschaftstest der Firma Schering (jetzt Bayer AG). Statt der heute gebräuchlichen Urintests bekamen Schwangere damals zwei Hormondragees – blieb trotzdem die Blutung aus, hieß das, sie waren schwanger.
Erst 13 Jahre später wurde das Medikament in Deutschland vom Markt genommen.
Dass Experten schon Ende der 70er-Jahre einen unheilvollen Zusammenhang zwischen der Einnahme des hormonellen Medikaments und Missbildungen erkannten, wusste Gisela Clerc nicht. Sie hatte kurz nach der Einnahme einen Blutsturz erlitten, die Tochter kam schwerbehindert zur Welt. Erst 13 Jahre später wurde das Medikament in Deutschland vom Markt genommen.
Trotzdem: Eine Klage der „Interessengemeinschaft duogynongeschädigter Kinder“ wurde bereits 1980 eingestellt. Dass die Missbildungen eine Folge von Duogynon seien, lasse sich nicht beweisen, so das Gericht. Trotzdem hofft Gisela Clerc jetzt auf Auskunft und möglicherweise auf Schadenersatz. Sie wird zusammen mit zwei Leidensgenossen gegen den Bayer-Konzern klagen. Der Grund: Das Arzneimittelgesetz hat sich 2002 geändert, und damit steigen juristisch die Chancen, neue Informationen zu bekommen. Die drei Kläger möchten endlich alle Studien sehen und die Fakten kennen. Der Pharma-Riese Bayer ist jedoch nach wie vor der Ansicht, dass „Duogynon nicht die Ursache der angeborenen Erkrankungen darstellt“.
Daran haben die Eltern von Lukas aus Lauf keinen Zweifel: Er kam 1968 mit einer offenen Kiefer-Gaumen-Spalte zur Welt. Mögliche Ursache, so die Mediziner zu den geschockten Eltern, sei ein Sauerstoffmangel in der 6. Schwangerschaftswoche. Ein Jahr später gebar die Halbschwester der Mutter ebenfalls einen Sohn mit Kiefer-Gaumen-Spalte. Beide Frauen hatten in derselben Zeit der Frühschwangerschaft Duogynon genommen. „Es kann keinen anderen Grund geben“, ist sich der Lukas’ Vater sicher.
Mehr als 75 Opfer meldeten sich bereits
Mitinitiator der jetzigen Klage ist Andre Sommer. Der Grundschullehrer aus dem Allgäu ist selbst ein Opfer, kam mit schweren Missbildungen zur Welt: Die Blase lag außerhalb des Bauchraums, sein Penis war verkümmert. Viele Monate verbrachte er in den ersten Lebensjahren im Krankenhaus. Ein gutes Dutzend Mal wurde er operiert.
Innerhalb von nur drei Wochen haben sich über seine Homepage www.duogynonopfer.de mehr als 75 Geschädigte gemeldet. „Sie wollen einfach nur eine Antwort haben, ob dieses Medikament an den Missbildungen schuld ist. Wenn Bayer wirklich der Meinung ist, dass es keine Beweise gibt, dann dürfte es ja kein Problem sein, dass die Akten offengelegt werden. Und darum geht es ja eigentlich."
1000 Fälle von Missbildungen der Extremitäten, Lippen-Kiefer-Gaumenspalten, Herzfehlern, Fehlbildungen der Genitalien, offenen Rücken, offenen Bäuchen, offenen Harnröhren soll es allein in Deutschland gegeben haben, die Dunkelziffer könnte um einiges höher liegen. Womöglich starben auch viele Embryos bereits im Mutterleib.
Der Fall ist mit dem Contergan-Skandal vergleichbar
Jörg Heynemann, Berliner Anwalt der Kläger, ist Experte im Arzneimittelrecht. Er ist optimistisch: „Der Duogynon-Skandal und der Contergan-Skandal sind durchaus vergleichbar. In beiden Fällen ist der Zusammenhang zwischen Einnahme und Schädigung offensichtlich." Sein Vorschlag: „Man könnte die Contergan-Stiftung erweitern. Bayer zahlt einen zweckgebundenen Betrag in diese Stiftung für die Duogynonopfer ein. Diese organisieren die Auszahlung an die Betroffenen unter staatlicher Aufsicht."
Das Geld wäre für Gisela Clerc wirklich nur ein Schmerzensgeld. Die zwei winzigen Pillen haben ihr Leben zerstört: Die Sorge um das Leben der Tochter und ihr Leiden bestimmte das Familienleben. Die Ehe zerbrach, Birgit überlebte. Jetzt hat die Mutter Kraft für einen neuen Kampf: „Ich will endlich wissen, was passiert ist!“ Andrea Uhrig