Die Zettelwirtschaft läuft

„Skizzen & Notizen“: Die Nürnberger Galerie Bernsteinzimmer gibt private Einblicke in den künstlerischen Ideenprozess von Thomas Bernhard bis Gerd Bauer.
von  Abendzeitung
Verzettelte Gedankenwelt: Die Organisatoren Fredder Wanoth (li.) und Elmar Tannert im Bernsteinzimmer, im Vordergrund eine Papier-„Skulptur“ von Betty Stürmer.
Verzettelte Gedankenwelt: Die Organisatoren Fredder Wanoth (li.) und Elmar Tannert im Bernsteinzimmer, im Vordergrund eine Papier-„Skulptur“ von Betty Stürmer. © Klaus Schillinger

NÜRNBERG - „Skizzen & Notizen“: Die Nürnberger Galerie Bernsteinzimmer gibt private Einblicke in den künstlerischen Ideenprozess von Thomas Bernhard bis Gerd Bauer.

So viel Handschrift war nie. Hingeworfen auf Briefumschläge, Bierdeckel, Papierfetzen, ausgeformt in Reise- und Skizzenbüchern, die Schreibgeräte zur gebündelten Tischskulptur deklariert. Zum „Erfahrungsfeld des Lesens“ sieht Fredder Wanoth, mit Elmar Tannert einer der Organisatoren dieser originellen Spurensuche, die Galerie Bernsteinzimmer gewandelt, wo 31 Künstler (von Daniel Buren bis Fred Ziegler) und Autoren (von Thomas Bernhard bis Fitzgerald Kusz) Momentaufnahmen des Schaffens unter dem Titel „Skizzen & Notizen“ zur privaten Hirn-Rallye hochgestapelt haben. Eine Fetzen-Angelegenheit, sozusagen.

Ein gewisses Flimmern vor den Augen gehört dabei zum Voyeursprinzip. Beim Abstieg in die Schubladen, die für Wanoth wegführen von der normalerweise in der Öffentlichkeit gezeigten Spitze des Eisbergs: „Die eigentliche Kreativität und Basis der Kunst sind viel größer.“ Und die genormte Computerwelt ist keineswegs Standard. Papierarbeiter stemmen sich hartnäckig und überall gegen die Elektronik, wie man sieht.

Die Nürnberger Kunstprofessorin Eva von Platen hat gleich eine ganze Pin-Wand des Alltags geliefert („Heidelbeeren sammeln, ein kaltes Glas Milch trinken, 100 Bücher mit DVD, Eigenverlag? ISDN? Notwendig“), der Cartoonist Gerd Bauer (auch mit geringhefteten Rohgedanken für AZ-Cartoons vertreten) nahm die Vollschlank-Statur des Comedian Matthias Egersdörfer im Vorbeigehen als malerische (und gut gelöste) Herausforderung. Die literarischen „Waschzettel“ von Christiane Neudecker und und Gerhard Falkner ergäben schönstes Material fürs Graphologen-Seminar. Thomas Bernhard, im Rufe spontaner Verbaltiraden stehend, lässt das überlegte Knobeln mit Schlüsselwörtern wie „Physik“ und „England“ erkennen.

Daniel Buren steuert eine Skizze zum Farbplan seiner aktuellen Ausstellung im Neuen Museum bei, Anders Möhl nagelt seine Skizzenbücher brutal an die Wand, Betty Stürmer lässt ein Kleid als Zeichenskulptur im Raum schweben und Fredder Wanoth lädt zu einer Stechschritt-Reise durchs Baltikum ein: Der Horizont begrenzt durch Tagebuchnotizen und Motive für „Zigarettenbildchen“. Die reinste Zettelwirtschaftskunde. Beziehungs-Input und Kunst-Output kreuzt Verena Waffek. Und Harri Schemm heftete einfach seine tagesaktuellen Verbesserungsvorschläge für die Kunst-Biennale in Venedig an den weißen Balken. Man sollte doch im deutschen Pavillon eine Reihe von „Luxus-Abtritten“ installieren, den Inhalt in Deutschland zu Biogas umwandeln, in Einwegfeuerzeuge abfüllen und am Canal Grande von schwarzen Straßenverkäufern anbieten lassen. Eine belebende Runde Spott im Wirtschaftskreisverkehr. Andreas Radlmaier

Galerie Bernsteinzimmer (Großweidenmühlstr. 11): bis 6. 12., Sa/So 15-19 Uhr. Am 14. November (18 Uhr) liest Elmar Tannert aus „Rache, Engel“, am 18.11. Wolfgang Weber.

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