Die rettenden Engel von „Christoph 27“

Wenn Menschen in Lebensgefahr schweben, wird er gerufen. Ein Tag mit dem „fleißigsten“ Rettungshubschrauber Deutschlands
Von Martin Mai
Jetzt ist es vollkommen still in dem kleinen Zimmer. Nur das Kratzen des Kugelschrei- bers ist zu hören. Notarzt Michael Meyer füllt den Totenschein von Johanna Müller* aus. Es ist 8.45 Uhr an einem Freitagmorgen in einem Altenheim in Höchstadt.
Minuten zuvor kämpfte die Crew des Rettungshubschraubers „Christoph 27“ um das Leben der 90-Jährigen. Das EKG piepte die Herzfrequenz in den Raum, venale Zugänge wurden gelegt, zusätzliche Helfer setzten auf Anweisung des Arztes Spritzen. Meyer beatmete die Rentnerin minutenlang – eine gefühlte Ewigkeit. Dann schüttelte er den Kopf. Die Helfer packten ihre Ausrüstung wortlos ein, zogen die Nadeln und Schläuche aus dem leblosen Körper.
Rettungsassistent Dirk Gockeler wäscht der jetzt friedlich daliegenden Dame das Gesicht, zupft die Kleidung zurecht, deckt die kleine Frau in dem großen Bett zu. Kein guter Start in den Tag für die Crew des Rettungshubschraubers. Aber auch kein ungewöhnlicher.
Früh gehts los. Das wichtigste beim Einsatz: Erfahrung
Der Arbeitstag der Besatzung von „Christoph 27“ am Nürnberger Flughafen beginnt täglich um 6.30 Uhr. Pilot Werner Grad (57) überprüft sein rot-weiß lackiertes Arbeitsgerät sorgfältig: Turbine, Kommunikationstechnik, Rotorblätter. Jeder Griff an dem 13 Meter langen, vier Meter hohen und 1500 PS starken Hubschrauber sitzt. Grad ist seit 35 Jahren Pilot, die letzten 28 davon als Rettungsflieger. Über 7000 Flugstunden hat er schon gesammelt, ist bei Sonnenschein und Schnee und Eis geflogen. Fragt man ihn nach seiner langen Karriere, zieht sich sein Gesicht zu tausend Lachfalten zusammen: „Bei uns ist Erfahrung wichtig, wir landen ja fast nur im Gelände.“
Während Grad den Hubschrauber einsatzbereit macht, checkt Rettungsassistent Gockeler die medizinische Ausrüstung: den Notfallrucksack, das Beatmungsgerät, den Defibrillator, die Vakuummatratze, das EKG und den Inkubator. Die Ausrüstung von „Christoph 27“ kann man mit der einer mobilen Klinik vergleichen – Notfallmedizin auf höchstem Niveau.
Uneitle Ärzte mit einem Hang zur Notfall-Medizin
Notarzt an diesem Tag ist Michael Meyer (41). Er wechselt sich mit insgesamt 40 anderen Ärzten auf „Christoph 27“ ab. Der Anästhesist ist ein ruhiger, uneitler Mann – mit TV-Serien-Ärzten, deren Frisur auch morgens um 7 Uhr sitzt, hat er wenig gemein. Sein Flieger-Overall spannt um den Bauch ein wenig, einziger Schmuck ist ein Kupfer-Armreif und ein Freundschaftsbändchen an den Handgelenken.
Seit acht Jahren ist er Notarzt, hat seitdem viel erlebt. Er war bei Tsunami-Opfern in Thailand, bei Erdbebenopfern in Istanbul. Meyer lakonisch über sich: „Ich habe einen Hang zur Notfall-Medizin. Vielleicht sollte ich mal zu einem Psychologen gehen.“
Die Drei haben schon unzählige Leben gerettet. Doch als Helden verstehen Sie sich nicht. „Wir sind nicht anders als tausende anderer Ärzte und Rettungsassistenten“, betont der Arzt. Nur dass sie eben ein ungewöhnliches Arbeitsgerät haben – den Hubschrauber.
Der immer wichtiger wird. Die Einsatzzahlen der Luftrettung steigen und steigen. So verfügt das Team DRF, die „Deutsche Rettungsflugwacht e.V.“ über 44, der ADAC über 32 Standorte. Deutschlandweit wurden von der DRF letztes Jahr 39111 Einsätze geflogen. Einsatzstärkster Rettungshubschrauber: „Christoph 27“ mit 1682 Einsätzen. Das macht im Schnitt rund fünf Einsätze pro Tag – jeden Tag, von 7 Uhr morgens bis Sonnenuntergang.
Es geht um Minuten
Um 7.28 Uhr hebt „Christoph 27“ zum ersten Mal an diesem Freitag ab, knapp zehn Minuten später sind Arzt und Rettungsassistent beim Patienten, wieder in einem Altenheim in Höchstadt. „Es geht nicht um Sekunden“, relativiert der Pilot später den enormen Zeitdruck unter dem die Crew steht, „es geht um Minuten.“
Im Altenheim erwartet Meyer und Gockeler beißender Gestank. Johannes Kluge* hat Koliken, Probleme mit dem Magen-Darm-Trakt, er krampft in seinem Kot und Erbrochenen. Meyer untersucht den 81-Jährigen, gibt Infusionen und Schmerzmittel. Als klar ist, dass Kluge stabil ist, wird er ins Krankenhaus gebracht. „Wir erleben den demographischen Wandel jeden Tag – wir haben immer mehr internistische Einsätze bei Senioren“, analysiert Meyer. Kaum hat er das ausgesprochen, wird die Crew von „Christoph 27“ mit dem Rettungswagen zu einem Folgeeinsatz in einem anderen Altenheim in Höchstadt gebracht. Dort ringt Johanna Müller mit dem Tod – und verliert. Meyer überbringt der Schwiegertochter die Nachricht – ganz anders als in Filmen, direkt, sachlich: „Ihre Schwiegermutter ist soeben verstorben.“ Gockeler schweigt, packt die Ausrüstung zusammen.
Die Geschichte vom „Autobahn-Klischee“
Auf dem Rückflug erzählt Meyer aus dem Alltag der Rettungsflieger. Vom „Autobahn-Klischee“, also dass der Rettungshubschrauber nur bei den schlimmsten Unfällen angefordert wird, das aber nicht stimmt. Von langen Arbeitstagen im Sommer, von der Faszination am Fliegen.
Doch nicht beim nächsten Einsatz. Der ist direkt hinter dem Flughafen, und auf die kurze Distanz ist der Hubschrauber zu langsam. Deshalb werden Arzt und Rettungsassistent von der Feuerwehr gefahren. Ein zweijähriges Kind ist in Ohnmacht gefallen. Kaum ist der Junge wieder ansprechbar, rast der Rettungswagen mit Martinshorn und Blaulicht quer durch Nürnberg in die Cnopf’sche Kinderklinik. Dort gibt es Entwarnung. Dem Kleinen geht es gut. „Wahrscheinlich nur ein Fieberkrampf“, gibt Meyer zu Protokoll. Die Erleichterung ist dem sonst eher stoischen Arzt anzumerken.
Er sitzt vor dem Klinik-Eingang auf einem Brunnenrand, scherzt mit Gockeler. Fragt man die Männer, was das Schlimmste an ihrem Job ist, antworten beide erst gar nicht – dann das Gleiche: „Wenn es kleinen Kindern schlecht geht.“
Der nächste Einsatz folgt um 14.46 Uhr. „Christoph 27“ fliegt nach Erlangen, wieder in ein Altenheim. Acht Minuten nach der Alarmierung sind Meyer und Gockeler beim Patienten.
Im elegant eingerichteten Zimmer kümmern sich bereits zwei Rettungssanitäter um den 84-jährigen Karl Hubertus*. Er leidet bereits seit zwei Jahren an einer Lungenerkrankung, jetzt ist sie lebensbedrohlich. Hubertus kann sich nicht mehr bewegen, bekommt keine Luft mehr. Meyer lässt ihn künstlich beatmen. Mit vereinten Kräften wuchten sie den schweren Mann auf die Trage, bringen ihn ins Klinikum Erlangen. Dort erledigt Gockeler die Schreibarbeit: Protokolle ausfüllen, die Daten des Patienten aufnehmen. Das ist für das Team DRF wichtig, denn Rettungshubschrauber sind teuer. Jede Flugminute kostest zwischen 35 und 50 Euro – doch diese Ausgaben werden nicht komplett von den Krankenkassen getragen, rund 25 Prozent der Gelder stammen aus Spenden.
Bilanz: fünf Einsätze, eine Patientin verstorben, vier gerettet.
Kaum steht „Christoph 27“ wieder auf der Landeplattform, schrillt um 16.55 Uhr erneut das Einsatz-Telefon. Es geht nach Unterferrieden, zehn Flugminuten von Nürnberg entfernt. Die 82-jährige Ilse Schreiber* ist eine Treppe hinuntergestürzt, es besteht der Verdacht auf ein Schädel-Hirn-Trauma – eine gefährliche, oft tödliche Verletzung. Christoph 27 landet am Ortseingang, Gockeler und Meyer legen die letzten Meter im Dauerlauf zurück. Um den bereits wartenden Rettungswagen stehen die geschockten Verwandten, neugierige Nachbarn. Im Inneren der mobilen Klinik überprüft Meyer die Reflexe der Frau. Ihr fließt Blut aus den Ohren.
Der Arzt stoppt die Blutung, dann entscheidet er: ab ins nahe gelegene Krankenhaus Rummelsberg. Meyer fährt im Rettungswagen mit, kontrolliert ständig Schreibers Zustand. Nachdem er sie der Obhut der Klinik-Ärzte übergeben hat, fliegt Christoph 27 zum letzten Mal für heute zurück nach Nürnberg. Bilanz: fünf Einsätze, eine Patientin verstorben, vier gerettet.
Christoph 27 wird aufgetankt, in den Hangar gezogen. Die großen Tore schließen mit einem lauten metallischen Klacken. Morgen fliegt der rot-weiße „Engel“ mit den 1500 PS wieder. Wie an jedem Tag, von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang.
* Namen geändert