Das Zugunglück von Warngau: Ein Münchner Einsatzleiter erinnert sich an 1975

Es war eines der schwersten Zugunglücke Deutschlands. 41 Menschen starben, 126 wurden verletzt. Was am Sonntag vor 50 Jahren in Warngau geschah – und in der Leitstelle in München.
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Mit nur einer Minute Abstand sollten die beiden Eilzüge aus ihren Bahnhöfen fahren. Die beiden Fahrdienstleiter waren in dem Glauben, der jeweils andere würde seinen Zug stoppen. Doch fuhren beide aufeinander zu.
Mit nur einer Minute Abstand sollten die beiden Eilzüge aus ihren Bahnhöfen fahren. Die beiden Fahrdienstleiter waren in dem Glauben, der jeweils andere würde seinen Zug stoppen. Doch fuhren beide aufeinander zu. © Hartmut Reeh/dpa

Immer, wenn Erwin Prechtl in einen Zug steigt, denkt er an den 8. Juni 1975. An den Sonntag, an dem er, wie üblich, um 14 Uhr zum Spätdienst in der BRK-Einsatzzentrale in München antrat. An den Sonntag, als um 18.31 Uhr bei Warngau zwei Eilzüge frontal zusammenstießen. An den Sonntag, an dem vier Minuten später der Notruf bei ihm einging.

Zuständig wären der damals 31-Jährige und sein Kollege Günther Höcherl, die an diesem Tag nur zu zweit im Dienst waren, gar nicht für den Einsatz in Oberbayern. Über den Polizeifunk erfahren sie, dass ein Zugunglück stattgefunden hat, von der Dimension wissen sie nichts. Prechtl versucht über den Miesbacher Kanal herauszufinden, was passiert ist, doch die Kollegen sind erst auf dem Weg zum Unfall. Er schickt den damals einzigen Rettungshubschrauber Bayerns hin. Als der jetzige „Christoph 1“ über der Unfallstelle fliegt, erreicht Prechtl der Funkspruch: „Leitstelle München, schickt’s, was schicken könnt’s“.

Um 18.35 Uhr ging der Notruf beim damals 31-jährigen Erwin Prechtl in der Leitstelle München ein.
Um 18.35 Uhr ging der Notruf beim damals 31-jährigen Erwin Prechtl in der Leitstelle München ein.

Plötzlich läuft der ganze Einsatz über ihn und seinen Kollegen. Sich über das Ausmaß Gedanken machen, kann er in diesem Moment nicht. „Man funktioniert einfach nur.“

Sonderzug 3594 ist neu auf der Strecke

Viele Tagesausflügler aus München sind an diesem sonnigen Sonntag am Tegernsee unterwegs, am Abend wollen sie nach Hause fahren. Die Strecke zwischen Holzkirchen und Lenggries ist damals nur eingleisig. Es gibt keinen Streckenblock, der verhindert, dass zwei Züge auf denselben Abschnitt einfahren und erst seit Kurzem gilt der Sommerfahrplan. Der Sonderzug 3594 ist neu auf der Strecke.

Laut des fehlerhaften Fahrplans sollen die beiden Eilzüge mit nur einer Minute Abstand aus ihren Bahnhöfen abfahren – aufeinander zu. Die beiden Fahrdienstleiter von Warngau und Schaftlach müssen sich absprechen. Sie und der Beamte, der den Fahrplan erstellte, sollten später zu Freiheitsstrafen auf Bewährung verurteilt werden.

Denn an diesem Sonntagabend sprechen die beiden aneinander vorbei und lassen ihre Züge aufeinanderzufahren. Um 18.27 startet der Zug in Warngau, um 18.28 der in Schaftlach. Technik, um sie noch zu stoppen, gibt es damals nicht - ein Funkkontakt zu den Lokführern ist nicht möglich.

Um 18.31 Uhr prallen die Eilzüge E3594 und E3591 aufeinander

Um 18.31 Uhr prallen die Eilzüge E3594 und E3591 aufeinander. Die vorderen Waggons werden zerquetscht und verkeilen sich ineinander. Die Lokführer sind sofort tot. 41 Menschen sterben – manche auch erst in den Folgetagen –, 126 werden verletzt.

„Das bringt man nie aus dem Kopf raus“, sagt Erwin Prechtl heute.
„Das bringt man nie aus dem Kopf raus“, sagt Erwin Prechtl heute. © privat

„Man kann sich das Ausmaß nicht vorstellen“, sagt Prechtl. „Und man darf es sich auch nicht vorstellen.“ Tote liegen herum, Verletzte, abgetrennte Extremitäten. Die Zuginsassen, die das Glück haben, nicht verletzt zu sein, sind teils eingeklemmt, über und unter ihnen liegen Tote.

Prechtl und sein Kollege schaffen es, 35 Rettungsfahrzeuge zum Einsatzort zu bringen, sowie mit der Unterstützung der Bundeswehr und der Polizei sieben Hubschrauber. Auf drei Funkkanälen sind sie permanent mit allen Hubschraubern und Fahrzeugen in Kontakt.

Es sind zu wenig Ärzte da, Prechtl organisiert Flüge vom Klinikum in Harlaching zur Unfallstelle. Andere Ärzte werden zur kleinen Kreisklinik in Holzkirchen geflogen, welche das nächstgelegene Krankenhaus ist, wo schon die Tragen ausgehen. Auf der Theresienwiese in München stehen Fahrzeuge bereit, Helikopter können damals noch nicht alle Krankenhäuser direkt anfliegen. „Sämtliche Lamperl an den Telefonen, die brennen konnten, haben geleuchtet.“

Auch die Anrufe besorgter Angehöriger gehen bei Prechtl ein

Auch die Anrufe besorgter Angehöriger, die wissen, dass der Sohn oder die Tochter in der Region war, gehen bei Prechtl ein. „Wir hatten nur die Namen derer, die ansprechbar waren.“ Über die Bewusstlosen oder Toten gibt es zu dem Zeitpunkt noch keine Informationen. Als Prechtl um 22 Uhr Dienstschluss hat, weiß er noch nicht, wie viele gestorben sind.

Die Toten werden in den kommenden Stunden und Tagen zur Identifizierung in der Allerheiligenkirche in Warngau aufgebahrt. Sarg an Sarg, Brille an Brille.

Am nächsten Tag geht die Koordination weiter, Prechtl ist wieder im Dienst in der Leitstelle. Und AZ-Reporter Guido Fuchs in Warngau. „Es ist ein Stück Oberbayern aus dem Bilderbuch“, schreibt er damals. „Wiesen, auf denen Kühe weiden, dahinter das Dorf mit den langgestreckten Bauerngehöften, überragt von den Zwiebeltürmen der beiden Kirchen, und ganz hinten am Horizont die Berge. So schön ist Warngau, durch dessen enge Straßen gestern wieder Leichenwagen um Leichenwagen fuhren.“

Sein Text endet damals mit einem Ehepaar, das Urlaub in Bad Aibling macht und vorbeigekommen ist. „Und was haben Sie sich von der Fahrt nach Warngau versprochen?“ „Tja, was habe ich mir versprochen?“, sagt der Mann. „Man hat doch Mitgefühl. Wer da kein Mitgefühl hat, hat kein Herz.“

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