Beautiful*! Ami-Rentner stürmen Nürnberg!
*Wunderschön! Jährlich kommen über 55000 Touristen per Flusskreuzfahrtschiff in die Noris. Doch wie erleben sie den Tagesausflug hierher? Ein Vormittag mit 132 amerikanischen Senioren...
NÜRNBERG Der Tag in Nürnberg beginnt für 132 amerikanische Rentner mit der Liebe. Und endet mit Hass. Die Romanze der Sigena – die aus der erstmaligen urkundlichen Erwähnung der Stadt – wird zu Beginn des Ausflugs in die Frankenmetropole im Bus erzählt. Dann folgen drei Stunden Hass aus zwölf Jahren. Nazis, Hitler, Reichsparteitagsgelände, Holocaust, Schwurgerichtssaal, Bomben, Kriegsverbrechen. Einer der Amerikaner sagt: „Der Wert Nürnbergs besteht für mich aus der Geschichte von Hitler und den Nazis.“
Die drei Stadtführer des Vereins „Geschichte für Alle“, die die Gäste aus den USA heute betreuen, wissen um dieses spezielle Interesse der meisten Flusskreuzfahrt-Passagiere. Und stellen sich – notgedrungen – darauf ein. Der Kunde ist eben König. Und der Kunde ist eine Boom-Industrie: die Personen-Flussschifffahrt.
Für das Jahr 2008 erwartet die Stadt 525 Fluss-Dampfer
Waren es im Jahr 1992, bei Fertigstellung des Main-Donau-Kanals, gerade einmal 20 Schiffe im Jahr, kamen 2007 insgesamt 486 Flusskreuzfahrtschiffe. Heuer erwartet die Stadt 525 Dampfer – mit weit über 55000 Touristen. Und ist damit an der Kapazitätsgrenze des Hafens. Deshalb werden 5,2 Millionen Euro in dessen Ausbau investiert (AZ berichtete).
Dort liegt nun auch die MS River Harmony der „Grand Circle Cruise Line“, zeitweilige Heimstatt für die 132 Senioren. Das 110 Meter lange Schiff kommt aus Wien, Ziel ist Amsterdam. Mit einer Höchstgeschwindigkeit von 25 Stundenkilometern zieht Europa an den Gästen vorbei.
Ohne genaue Anweisungen sind die Senioren verloren
Bereits um 8.30 Uhr treffen sich die gut gelaunten Grauhaarigen in der mit schweren, dunklen Möbeln eingerichteten Lobby im Schiffsbug. Es steht ein Vortrag über Nürnbergs Geschichte auf dem minutiös durchorganisierten Tagesplan. Pünktlich um 10 Uhr kommt die Durchsage: „Bitte gehen Sie jetzt zu den Bussen. Vergessen Sie nicht Ihre Sonnenbrillen und Ihre Head-Sets.“ Rundum-Betreuung. Die drei „Cruise-Manager“ Alexander Berger, Adrienn Godo und Katharina Bauer sind Mädchen für alles. Sie kümmern sich von dem richtigen Zeitpunkt zum Buseinstieg, den genauen Anweisungen für die Stadtführer („heute kein Aussteigen am Schwurgerichtssaal, eine Stunde Freizeit!“) bis hin zum Krankenhaus-Besuch um alles.
Im Bus plaudert der Nürnberger Stadtführer Ralf Arnold mit gewaltigem Wissen über die lokale Historie. Kathy Loer aus Irvine, Kalifornien, findet das alles „beautiful“ – also wunderschön. Die 68-jährige ehemalige Lehrerin war noch nie zuvor in Deutschland. 4000 Dollar ist ihr diese zweiwöchige Reise in ihre eigene Vergangenheit wert – ihre Großeltern stammen aus Deutschland.
Erster Stopp: Kongresshalle. Der Bus dreht eine Runde durch den Innenhof, Arnold erklärt den größenwahnsinnigen Plan der Nazi-Architekten. Kathy Loer staunt. Fünf Minuten später steht die Gruppe vor der Zeppelintribüne. Der Wandel vom Nazi-Aufmarsch-Feld zum Festival-Gelände beeindruckt. „Wow, what a transformation!“ – was für eine Wandlung! Kathy Loer ist jetzt richtig begeistert. Dann: Vorbeifahren am Schwurgerichtsgebäude – staunen, Kameraklicken – Umrundung der Burg – staunen, beeindruckt sein.
Stadtführer Arnold lässt ein Bild von Dürers „Betenden Händen“ durch die Busreihen gehen. „Das habe ich daheim an der Wand hängen. Aber ich wusste nicht, dass das aus Deutschland kommt!“ Endstation: Hauptmarkt. Und das war’s. Ohne Anweisungen sind die Freizeitrundumbetreuten verloren. Kathy Loers Verwandte suchen eine vertraute Burger-Kette auf. „Die haben die besten Toiletten.“ Der Rest staunt über die Blütenpracht der Blumenhändler am Markt. Punkt 12.30 Uhr steigt die Gruppe wieder in den Bus – gleich gibt es Mittagessen auf dem Schiff. Reiseleiter Alexander Berger fragt: „Hat Ihnen Nürnberg besser gefallen als Regensburg?“ Die graue Gruppe schreit begeistert wie eine Schulklasse auf Klassenfahrt: „Yeaaahhh!“
Pünktlich um 13 Uhr sind alle Ausflügler wieder an Bord. Gemächlich schiebt sich das dicke Schiff in die Kanalmitte, drei Stunden Nürnberg im Gepäck: Eine Geschichte von der Liebe und Bilder von Nazis und Blumen auf dem Hauptmarkt im Kopf. Martin Mai
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