Attentat hinter der Gardine

Der 32jährige Leipziger war Hausregisseur am dortigen Schauspiel und inszenierte in Köln und Stuttgart. „Pornographie“ ist sein Debüt in Nürnberg. Enrico Lübbe im AZ-Interview über die Erstaufführung.
Lauter Schlaglichter auf Menschen, die Regeln aushebeln: Die Karrierefrau, die Firmengeheimnisse an die Konkurrenz verrät, das Mädchen, das sich mit seinem Bruder einlässt, der Professor, der die Notlage einer Studentin sexuell ausnutzt – und dazu ein Familienvater mit einer Bombe im Rucksack. Der Londoner Terroranschlag bildet – wie das „Live8“Spektakel und der Olympia-Zuschlag – der Hintergrund für Simon Stephens’ Stück „Pornographie“, das gerade eine deutsche Premierenwelle erlebt. Die Uraufführung von Sebastian Nübling wurde zum Berliner Theatertreffen eingeladen. In Nürnberg inszeniert Enrico Lübbe das Episoden-Drama mit der provokativen Note als letzte Premiere (29. März) vor der Schauspielhaus-Sanierung. Der Gast-Regisseur wird ab kommender Spielzeit Schauspielchef in Chemnitz, dem Theater, wo auch Michael Thalheimer und Frank Castorf, Corinna Harfouch und Ulrich Mühe anfingen.
AZ: Herr Lübbe, sind Sie der Mann fürs Aktuelle?
ENRICO LÜBBE: Nee, ich stehe den meisten Gegenwartsstoffen skeptisch gegenüber. Denn eine zweite Ebene sollte ein Theaterstück schon haben. Aber bei den neueren Autoren, die man zuletzt angefasst hat, also Stephens. Jon Fosse, Neil LaBute, da wird’s interessant, weil sie tolle Stoffe liefern.
Bei „Pornographie“ fragt sich der unbedarfte Besucher allerdings, wie viele Sex-Szenen und Obszonitäten ihn erwarten. Etikettenschwindel, oder?
Natürlich denken wir bei Pornographie alle zunächst an sexuelle Geschichten. Aber hier geht um Überschreitungen, in sechs einzelnen Geschichten. Stephens macht den tollen Trick, er zoomt hinter die äußeren Ereignisse. Das finde ich sehr reizvoll: Nach außen bekommt man die große Weltmetropole London präsentiert, aber blickt man hinter die Gardinen, tun sich die absoluten Abgründe auf. Für mich wurde die Geschichte an einem Punkt richtig spannend: Stephens mischt einen Attentäter unter diese Grenzüberschreitungen.
Pornographie wird gleichgesetzt mit Unanständigkeit. Will er sagen, dass uns Menschen alles wurscht ist?
Weiß ich gar nicht. Man geht eher mit einem Zeitgefühl raus. Man hat am Ende keine Geschichte erfahren, sondern Schlaglichter der Gegenwart.
Der Autor empfiehlt ja auch, mit den Einzelteilen zu machen, was man will. Was machen Sie damit?
Ich habe einfach gemerkt, dass man auf einer großen Bühne eine solche Geschichte ausformulieren muss und größer zieht. Also kommen bei uns einzelne Figuren hinzu, die Stephens nur andeutet. Auf den ersten Blick scheinen Geschichten und Sprache banal, aber die Figuren haben eine enorme Tiefe. Und das unterscheidet ihn von ganz vielen jüngeren Autoren.
Es liegt Endzeitstimmung über dem Ganzen?
Beklemmend ist es schon. Interessant ist ja, dass Stephens sagt, in London könnte man das Stück nicht zeigen.
Ja, warum denn?
Er setzt die Überschreitungen der anderen mit der des Attentäters gleich. Und dafür würden sie ihm in London vermutlich den Kopf abreißen. Weil’s wirklich ein ganz, ganz schmaler Grat ist.
Sind wir am Ende alle Sprengstoff auf zwei Beinen?
Eine Bombe zu legen oder mit einer ehemaligen Studentin ins Bett zu gehen, hat natürlich eine andere Qualität. Aber die Frage ist wirklich. Wer hat mehr Schuld? Und es gibt Punkte beim Attentäter, wo ich ihn wirklich begreifen kann.
Geht’s also um eine Wertediskussion?
Gar nicht. Und das ist das Tolle bei Stephens. Ich finde auch, dass „Pornographie“ einer der ersten guten Kommentare zum 11. September ist. Die Folie aus Großereignissen und Attentat hat ja überhaupt keine Relevanz.
In der Uraufführung wurde das optisch plakativ mit dem Turm zu Babel gefasst. Gibt’s bei Ihnen ähnliche Symbolik?
Nein, dabei dachte ich mir auch eher – hmm. Wir haben einen Raum, der schon etwas sehr Endzeitliches hat. Ein großer Platz, eine große Betonbühne, die aussieht wie ein Hinterhof oder Parkdeck. Die große Chance dabei ist, etwas auch simultan zu spielen.
Das Stück wird auf breiter Front gespielt. Erklärbar?
Na, sonst hätte ich es ja auch nicht gemacht. Ich glaube freilich, dass es von Stephens fürs Repertoiretheater dankbarere Stücke gibt. Das ist wie ein Eisblock, den er uns hinschmeißt.
Ist das ein bürgerliches Drama?
Solche Qualitäten hat es. Ich finde es psychologisch gesehen sehr bürgerlich. Ich würde eher in diese Tradition gehen als in die 90er Jahre und „Shoppen und Ficken“.
Ein Zitat lautet „Bilder der Hölle. Sie sind stumm“. Was will der Dichter uns damit sagen?
Ich verstehe das auch nicht, deshalb haben wir das Zitat auch nich drinne. Brauchen wir an diesem Abend auch nicht. Das spürt man an zehn Stellen, das muss man dann nicht unbedingt noch sagen.
Andreas Radlmaier