Attackierende Absurdität?

Im Gostner Hoftheater kann man sich jetzt in Stephan Thiels Inszenierung von Jan Neumanns „Fundament“ bestens über die Typen-Parade des moralischen Untergang-Quartetts amüsieren
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Ein Typen-Quartett zwischen Angst und Hoffnung: Christine Mertens, Nora Wiel, Thomas Georgiadis und Thomas Witte.
Joachim Werner-Cramer Ein Typen-Quartett zwischen Angst und Hoffnung: Christine Mertens, Nora Wiel, Thomas Georgiadis und Thomas Witte.

Nürnberg - Im Gostner Hoftheater kann man sich jetzt in Stephan Thiels Inszenierung von Jan Neumanns „Fundament“ bestens über die Typen-Parade des moralischen Untergang-Quartetts amüsieren

Zuerst werden auf leerer Bühne außer den Muskeln ebenso die Zungen gelockert, was wenig später nicht nur der Sprache hilft, sondern auch bei der ersten Darstellung von Erotik sehr nützlich sein wird. Dann schleppen die vier handelnden Personen, immer wieder unterbrochen von sichernden Blicken ins Ungewisse und gestammeltem „Tschuldigung“, Unmengen von Stühlen herbei. Völlig außer Atem begrüßen sie sich endlich – und stimmen die erste Botschaft des Abends an: „Wenn alle Brünnlein fließen“. In Jan Neumanns „Fundament“, einer satirisch umhäkelten Textfläche aus festgeklopften Proben-Improvisationen, geht es bei Stephan Thiels Inszenierung am Gostner Hoftheater um Existenzfragen mit und ohne Knalleffekt. Zwischen Benefiz-Gläubigkeit und Sprenggürtel-Erlösung darf erschaudernd über den Sinn des Über-Lebens gelacht werden. Die Kollektiv-Erzähler, die bei Bedarf auf Solo-Rollen umsteigen, bitten zur Großstadt-Reportage am Bahnhof und können auch griechischen Chor. Etwa, wenn sie gemeinsam die Demuts-Floskeln des DB-Zugführers wie ein Gedicht aufsagen. Verspätung/Verständnis, ganz klarer Fall von poetischer Begriffs-Paarung.

Ein Frührentner, der in Gesellschaft immer zu viel redet, wie er ausführlich darlegt, quittiert sein eigenes Plappern mit dröhnendem Gelächter. Über Judentum und die Rolling Stones weiß er Bescheid, beim Islam kennt er sich aus, als Buddhist wollte er zu sich finden, sah aber immer nur „Jesus mit Bauch“. Was tun? Thomas Witte backt eine absurde Bravournummer aus der Portion Nervensägemehl. Dann wird Studenten-Nostalgie uralter WG-Zeiten abgerufen, der Wille zur Wohltätigkeit zwischen dem fernen Afrika und den nahen Tauben ausgerichtet. Die scharfe Kurve ins Kabarett, wo man im Workshop das „Atmen im Gesäß“ lernt und das Benefiz-Blabla mit Seifenopern-Schaum hochquirlt, führt an Episoden entlang und zur General-Erkenntnis „Wir haben alle Angst“. Dabei möchte der nette Herr Doktor mit den Wohltäter-Genen sich so gerne für sein „schönes, privilegiertes Leben“ bedanken, ist aber Atheist und weiß deshalb nicht, bei wem. Unterbrochen wird die Typen-Parade vom sanftgiftig querschlagenden Schauspieler-Gesang (Thomas Georgiadis, Christine Mertens und Nora Wiel würden jeden Madrigalchor mit Beitrittsformularen wedeln lassen) und dem ganz anderen Geräusch der alles vernichtenden Selbstmord-Attentäter.

Regisseur Stephan Thiel hat den vieldeutig witzelnden, vom eigenen Tiefsinn nicht recht überzeugten Text mit dem gedankenflitzenden Sketch-„Fundament“ sehr geschickt ins Spielerische gedrängt. Da züngelt der Spott an den Szenen-Klischees, sofern die Zungen nicht grade sowieso als Sex-Stilisierung zwischen den Lippen flattern, und die größte Detonation folgt dem Ruf nach „Moral“ wie zum Hohn auf eine defekte Welt. Da stürzen auch die Stühle aus ihrer Reihen-Ordnung. Aber der Trost bleibt, Gesang salbt alle Wunden. Wer das nicht als Philosophie im freien Fall, als alles attackierende Absurdität sieht, kann sich bestens amüsieren übers Gostner-Untergangs-Quartett. Bei der Premiere entschied sich das Publikum eindeutig dafür – und applaudierte begeistert. D.S.

Weitere Aufführungen: 5., 9. bis 12. und 16. bis 19. Februar

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