Artige Grete, wilde Greta

NÜRNBERG Es geht um Henne und Ei: Muss der Künstler erst Erfolg haben, um lieben zu können, oder lieben, um wahre Kunst zu erkennen? Franz Schreker, der zwischen den Trendsettern Strauss und Schönberg seinen Pfad ins Dickicht der Musikgeschichte schlug, erzählt in der 100 Jahre alten Oper „Der ferne Klang“ etwas von der Sehnsucht nach dem ultimativen Hörsturz. Sie ist grell maskiert in ein Melodram nach Zeitgeschmack, wo das Wort „Sündenpfuhl“ noch schaudern ließ. In der Komposition taucht wie im Sound-Sampler alles auf, was zwischen Wagner, Stummfilm und Avantgarde-Ahnung in Bewegung war. Dass mit Regisseurin Gabriele Rech und Dirigent Philipp Pointner in Nürnberg das gleiche Team angesetzt wurde wie im Vorjahr beim Achtungserfolg mit Korngolds „Die tote Stadt“ schien sogar clever.
Leider ein Irrtum – die Aufführung wird dem Werk nicht gerecht. Ehe sich das unglückliche Liebespaar am laubgesägten Gartenzaun trennt – Künstler Fritz will „frei sein“ und seine herzensgute Grete wird grade vom versoffenen Vater an den Wirt verspielt - hat das Orchester schon Stimmung gemacht. Danach bekommt das Schicksal Blanko-Vollmacht.
Grete flieht vor der Zwangsehe und macht im Luxus-Bordell Karriere. Dort umschwärmt sie ein Graf (Jochen Kupfer singt die schönste Ballade) und beschimpft sie der Freund als Dirne. Viel später, laut Libretto-Moral „tief gesunken“, geht sie in die Oper und erkennt dort die wahren Träume ihrer Jugendliebe. Endlich hört auch er es überirdisch zirpen. Das Gute lag so nah, aber das Leben ist halt ein Missverständnis.
Gretas Empfehlung für Gynäkologenkongresse
Gabriele Rech inszeniert die Geschichte so banal, wie sie klingt. Statt einer Überhöhung zum Sinnbild knüllt sie die Szenen zum realistischen Bilderbogen, in dem alle Emotionen wie dicke Schminke aufgelegt sind. Auf der Bühne von Dirk Becker, die zwischen Wackelkulisse und Denkraumpflege ein Freudenhaus als Zirkusarena zeigt, sind Theater-Attrappen unterwegs. Dank der Knusperhexe als Kupplerin (Teresa Erbe macht drei Rollen zu einer) wird aus der artigen Grete die wilde Greta (Astrid Weber singt in der Brünnhilden-Klasse und spielt reines Soap-Elend), die sich breitbeinig für Gynäkologen-Kongresse empfiehlt.
Nachdem sie aus dem Trapez-Himmel einschwebend von der Männerwelt überraschend nicht mit „Hello, Dolly“ begrüßt wurde, beginnt das große Sündigen. In allen Ecken der Arena wird fleißig geküsst, gepeitscht und kopuliert. Auch die Herren des Ensembles öffnen die Hemden und zeigen Zwischenergebnisse ihrer Fitness-Bemühungen.
Fünf Jahre später, im dritten Akt, trifft man auf geläuterte Senioren. Fritz (Tenor Michael Putsch bringt mit seiner eigenartigen Stimmführung den zerrissenen Charakter gut auf den Punkt) erinnert an „ein herrliches Weib“. Er kann sich von ihr nach furiosem Finale die Augen zudrücken lassen.
„Wie wenn der Wind mit Geisterhand über Harfen streicht“, will der Komponist in „Der ferne Klang“ ganz im Sinne seines Erfinders die Ideal-Musik haben. Doch der nahe Klang, den Dirigent Philipp Pointner bietet, ist eher ein Sturm, der mit geballter Faust in die Nürnberger Philharmoniker fährt. Im Vor- und Zwischenspiel bringt der Drang zur Leuchtrakete eindrucksvolle Ergebnisse, ebenso im Nachzeichnen der situationsgerecht differierenden Kompositions-Architektur. Aber im Umgang mit den ständig überspülten Sängern ist er eine Zumutung. Der Umklammerung der banalen Regie kann die Musik so nicht entkommen.
Großer Aufwand, kleines Ergebnis. Der Beifall war, naja: wohlwollend.
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Weitere Vorstellungen: 10., 16., 22. und 28.5. – Karten unter Tel. 01805 231 600