Amokalarm und "Stich in die Seele": Plädoyers im Mordprozess um Hanna

Der Prozess im Mordfall Hanna W. folgt einer Spirale der Eskalationen. Auch am Tag der Plädoyers. Doch zum ersten Mal hat sich der Angeklagte geregt.
von  Heidi Geyer
Hanna W. aus Aschau.
Hanna W. aus Aschau. © privat

Traunstein/Aschau - Schon um acht Uhr morgens ist eine lange Schlange am Landgericht Traunstein. Der Sitzungssaal wird kurze Zeit später vollständig belegt sein. Im Prozess gegen Sebastian T., der die 23-jährige Hanna W. umgebracht haben soll, werden am Freitag die Plädoyers gehalten.

Es ist ein Prozess, der sich in eine Schlammschlacht verwandelt hat und immer neue, immer abstrusere Wendungen nimmt: Was mit Wortgefechten begann, mündet nun in Befangenheitsvorwürfen und Anzeigen.

Unruhe wegen Amokdrohung

Prozesstag 34 ist keine Ausnahme in dieser Eskalationsspirale. Die Vorsitzende Richterin Jacqueline Aßbichler weist die Zuhörer darauf hin, dass eine Amok-Drohung vorliege, deshalb sei so viel Polizei vor Ort. Fast nebensächlich erwähnt sie das. Und versichert zugleich: "Wir haben alles im Griff!" Wer dennoch lieber gehen möchte, solle dies tun.

Nach AZ-Informationen soll die konkrete Drohung jedoch schon länger zurückliegen – nämlich bereits mehrere Wochen. In der Zwischenzeit gab es bereits Verhandlungstage, jedoch ohne Hinweise von Aßbichler. Warum sagt sie erst an diesem Freitag etwas dazu? Will sie auch eine Art Plädoyer halten, in welche Abgründe der Umgang in diesem Prozess gekommen ist?

Kein Unfall laut Fiedler

Kein Zuschauer verlässt jedoch den Saal. Nur die Vorhänge sind während der ganzen Verhandlung zugezogen, aus Gründen der Sicherheit.

Die Polizei ist jedoch auch mit vielen Beamten vor Ort, die in dem Fall ermittelt hatten. Sie wollen auch aus dem Fall lernen, sagt einer der AZ.

"Jeder Stein wurde umgedreht", sagt Staatsanwalt Wolfgang Fiedler in seinem Plädoyer. Ein Unfallgeschehen, das zum Tode Hannas geführt habe, könne "zweifellos ausgeschlossen werden". Fiedler erklärt dann, was sich aus seiner Sicht in Hannas letzter Nacht abgespielt hat.

So soll die Attacke gelaufen sein

Sebastian T. sitzt nur wenige Meter entfernt. Fiedler beschreibt, wie der "Täter Hanna W. durch massive Krafteinwirkung fixierte". Er habe sie massiv gegen den Kopf geschlagen, ihr die Hose und die Jacke ausgezogen. Dennoch ist völlig rätselhaft, warum Hanna ihre Schuhe noch trug, jedoch keine Hose mehr. "Er packt sie von hinten am Arm, zieht ihr die Jacke aus”, so beschreibt Fiedler die Tat. "Hanna versucht noch verzweifelt, ihre Eltern anzurufen.” Aus Wut habe er ihr das Handy aus der Hand geschlagen.

Nur schwer erträglich für Hannas Eltern

Für Hannas Mutter ist das eine sichtliche Tortur. Sie zittert. Ihr Mann und sie halten sich an den Händen, wie so oft in diesem Prozess.

Fiedler trägt viele Fakten zusammen, aber eindeutig ist für ihn besonders ein Umstand: Nachdem T. in der JVA mit dem psychiatrischen Gutachter gesprochen hatte, schlug er mit der Hand so gegen die Wand, dass er sich eine Fraktur zuzog. Sie hatten über ein Mädchen gesprochen, bei dem T. nicht hatte landen können. Als jemanden, der seine Impulse nicht kontrollieren kann und ein gestörtes Sozialleben hat, beschreibt ihn Fiedler. Der Vater von T. sitzt im Publikum und schüttelt den Kopf.

9 Jahre und sechs Monate

Fiedler ist überzeugt, dass der Täter auf dem Anklagestuhl sitzt. Die besondere Schuld sieht Fiedler jedoch nicht: Zwar sei der Angriff für die Familie "unfassbar” gewesen, aber T. habe sich bisher nichts zu Schulde kommen lassen. Neun Jahre und sechs Monate Haft als Heranwachsender nach dem Jugendstrafrecht fordert Fiedler abschließend für gefährliche Körperverletzung und Mord. Es hätten auch 15 Jahre sein können, aber eben nur bei besonderer Schwere der Schuld.

Das Opfer kriegt Raum

Es ist wie so oft bei Gerichtsverhandlungen: Das Opfer spielt nur noch eine Nebenrolle. Dieses lebensfrohe Mädchen, mit dem man nicht richtig streiten konnte, und das einfach nur feiern war wie so viele Menschen in diesem Alter – an diese junge Frau erinnert Nebenkläger-Vertreter Walter Holderle. "Warum?" – das ist die Frage, die Hannas Eltern beschäftigt. Was ist in jener Nacht passiert? Die Eltern hätten viele Fragen.

Nicht blöd, sondern ein Stratege

Es sind bewegende Worte, die wirken. Mucksmäuschenstill ist es trotz der über 100 Prozessbesucher. Zu den Sexvideos und Suchen nach Gewalt im Internet sagt Holderle: "Warum schaut man sich sowas an?” Zugleich hält er den Angeklagten nicht für blöd, bezeichnet ihn als "durchaus ein Stratege”. Das will die Mutter von T. nicht hören, ist empört.

Wo ist das Messer? 

Einen Plan vermutet Holderle – denn ein Klappmesser, das er immer mit sich trug, ist bislang nicht gefunden worden. Auch Fiedler hatte gesagt, dass Hanna nicht zwangsläufig mit einem Stein, sondern eben auch mit dem Griff eines Messers verletzt worden sein könnte. "Woher kommt die Verhaltensänderung ab 3.10.?”, fragt der Anwalt. Der Angeklagte schüttelt den Kopf, zieht eine Grimasse. Es ist nahezu das erste Mal, dass T. sich überhaupt regt, irgendeine Reaktion zeigt. T. sieht Holderle an, sein Gesichtsausdruck ist unwirsch.

Dank an Ermittler, Watschn für Regina Rick

Holderle dankt explizit der Polizei und der Staatsanwaltschaft. Ganz explizit möchten Hannas Eltern auch eine Polizistin loben. Jene Frau, die die Verteidigung attackiert hatte. Denn diese war auch im Fall Genditzki tätig. Jenem Mann, der als vermeintlicher Badewannenmörder 13 Jahre unschuldig in Haft gesessen war.

Zu T.s Verteidigerin Regina Rick sagt Holderle, ihr Verhalten sei "ein Stich in die Seele" von Hannas Eltern. Er schließt sich der Forderung der Staatsanwaltschaft an.

Rick liest in ihrem Plädoyer erst einmal minutenlang aus besagtem E-Mail-Schriftverkehr, der Anlass für ihr Befangenheitsgesuch gewesen war. "Mit dieser an Deutlichkeit nicht zu überbietender Präzision” zeige sich, dass das Urteil schon feststehe. Ohnehin hatte die Verteidigung bereits angekündigt, die Revision vorzubereiten. Rick fordert Freispruch – und setzt sich.

Kurz und planlos

Es wirkt so, als hätten sich die drei Verteidiger überhaupt nicht abgestimmt. Es folgt ein buntes Potpourri an Gründen, warum ihr Mandant nicht der Täter war. Pflichtverteidiger Harald Baumgärtl offenbart in seinem kurzen Plädoyer, dass er und Rick bedroht worden seien. Aus seiner Sicht habe das Treffen von T. mit seinen Freunden erst am 4. Oktober stattgefunden. Markus Frank, der zweite Pflichtverteidiger, liest immer wieder aus Zeugenaussagen vor, weist auf Widersprüche und Unstimmigkeiten hin. Zum Beispiel die Geschichte mit dem Messer, mit dem T. Verena R. bedroht haben soll. "Jetzt können wir es uns aussuchen", sagt Frank. Jemand sage nicht die Wahrheit.

Abschließend listet Rick nochmals die aus ihrer Sicht unplausiblen Sachverhalte auf. Etwa, dass alles, was sich Staatsanwaltschaft und Gericht "hier ausgedacht haben”, niemals zu bewerkstelligen wäre. "Sie haben nichts, was gegen diesen Jungen spricht." Auf ein letztes Wort, das ihm als Angeklagtem zusteht, verzichtet T.

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