Ärztliche Versorgung in Bayern: Täglich ein Fehler
Wegen starker Bauchschmerzen ist Helmut Müller aus Wertach im Oberallgäu mit dem Rettungswagen vor rund sechs Jahren ins Krankenhaus gebracht worden. Die Vermutung des Notarztes: eine lebensbedrohliche Entzündung im Bauchraum, wegen Gallensteinen. "Ich habe wegen der Schmerzen nichts tun können", erzählt Müller. Außer die ganze Nacht zu warten.
Ein Röntgenbild und ein Ultraschall bestätigten vermeintlich den Verdacht auf eine akute Gallenblasenentzündung. Auf eine Computertomografie verzichteten die Ärzte – was sich als fataler Fehler entpuppen sollte: Erst nachdem sie die Gallenblase entfernt hatten, realisierten sie, dass die eigentliche Ursache für das Leiden ein lebensgefährlicher Blinddarmdurchbruch war.
15 Prozent der Verdachtsfälle sind medizinische Behandlungsfehler
Wäre dieser richtig erkannt worden, wäre der Spuk nach drei Wochen wieder vorbei gewesen. Stattdessen waren es sieben Monate – und bis heute kämpft Müller mit den Folgen. "Manche Lebensmittel vertrage ich gar nicht", sagt er. Und auch sein Job als Straßenwärter fällt ihm schwerer, gerade die Zehn-Stunden-Schichten beim Schneeräumen. Noch arbeitet er Vollzeit, aber: "Ich spiele schon mit dem Gedanken, dass ich reduziere."
Müller ist kein Einzelfall. Die AOK Bayern bilanziert nach 25 Jahren Patientenberatung: Statistisch hat jeden Tag im Freistaat ein Versicherter einen bestätigten Behandlungsfehler erlitten. Von den rund 64.000 Verdachtsfällen hatten sich über 9000 mithilfe von Gutachten bestätigt (rund 15 Prozent). Der Medizinische Dienst Bayern registrierte allein für das vergangene Jahr etwa 2200 Verdachtsfälle, von denen sich rund ein Drittel bestätigte. Da nur ein Bruchteil tatsächlich gemeldet wird, soll die Dunkelziffer demnach wesentlich höher liegen.

Mit ein Grund, der viele abschreckt: Melden die Betroffenen einen Fehler, erwartet sie eine Odyssee. Zunächst müssen sie beweisen, dass ein Missgriff wirklich vorliegt. Sollte es zu einem Klageverfahren kommen, kann dieses laut AOK über Jahre dauern, denn meist richtet es sich gegen mehrere Beklagte. Die Fachbereichsleiterin für Behandlungsfehlermanagement bei der AOK Bayern, Eleonore Feuchtmeier, sagt: "Klageverfahren sind für die Betroffenen emotional und finanziell belastend." Gerade weil die Hilfe eines Fachanwalts für Medizinrecht in solchen Fällen ratsam sei.
Bei Behandlungsfehler Gedächtnisprotokoll anfertigen
Sollte man einen Behandlungsfehler vermuten, rät Rechtsanwalt Benedikt Jansen, möglichst zeitnah ein Gedächtnisprotokoll anzufertigen und mit Datum und Unterschrift zu versehen. Gerade weil sich die Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen ziehen könne, sei so sichergestellt, dass die Erinnerungen an die damaligen Vorgänge nicht verblassen.
Im nächsten Schritt geht es darum, die Behandlungsunterlagen vom betroffenen Arzt oder von der Klinik einzuholen. Hier kommen die gesetzlichen Krankenkassen ins Spiel, die das übernehmen können und an den Medizinischen Dienst weiterleiten. Der wiederum erstellt ein Sachverständigengutachten, das den Behandlungsfehler herausarbeitet. Das ist laut AOK Bayern kostenfrei.
Ein solcher Fehler liegt laut Jansen rechtlich dann vor, wenn der Arzt nicht den Standards folgt, die fachlich zu erwarten sind. Das kann schon bei der Aufklärung oder Diagnose beginnen, aber auch bei der Therapie oder im Anschluss an eine Behandlung passieren.
Behandlungsfehler: Auch Verdienstausfall kann eingeklagt werden
Die Betroffenen können sowohl ein Schmerzensgeld für die körperlichen Schäden einfordern, das je nach Fall von einem niedrigen vierstelligen Betrag bis hin zu hohen sechsstelligen Summen reichen kann. Als auch einen Schadensersatz, etwa für einen Verdienstausfall, weil das Krankengeld nach sechs Wochen nur 70 Prozent des Bruttoarbeitsentgelts beträgt. "Das ist eine spürbare Einschränkung", sagt Jansen. Im Fall von Müller musste seine Frau außerdem sämtliche Arbeiten im Haus übernehmen, inklusive Versorgung der Kinder und Tiere. Auch das lässt sich laut Jansen in Euro und Cent umrechnen.
Damit Betroffene schneller und einfacher zu ihrem Recht kommen, spricht sich die AOK Bayern für eine Stärkung ihrer Rechte aus. "Fehler sind menschlich – aber sie müssen aufgearbeitet werden", heißt es von der Krankenkasse. Demnach soll die Beweislast abgesenkt werden. Das bedeutet: Eine "überwiegende Wahrscheinlichkeit", dass der Fehler zu Folgeschäden geführt hat, solle genügen – anstatt jeden einzelnen Schaden als direkte Konsequenz des Fehlers lückenlos belegen zu müssen.

Ebenso soll eine Haftpflichtversicherung für Behandler und Hersteller medizinischer Produkte zur Pflicht werden, damit im Falle einer Insolvenz die Betroffenen nicht leer ausgehen. Außerdem fordert die AOK Bayern ein Zentralregister für Behandlungsfehler, um Erkenntnisse zu bündeln und Prävention zu verbessern.
Die Krankenkasse wünscht sich eine offene Fehlerkultur und weniger Konfrontation mit den Ärzten und Kliniken. "Es geht nicht um die Frage, wer schuld ist, sondern darum, was wir gemeinsam besser machen können." Die AOK räumt aber auch ein: Die Qualität der medizinischen Versorgung sei bereits auf einem hohen Niveau und Behandlungsfehler passierten relativ selten.
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