24.000 Nürnberger können diesen Artikel nicht lesen*

* weil sie Analphabeten sind. Im Südpunkt wurde jetzt das neue Lernzentrum eröffnet, in dem diesen Menschen geholfen wird. Die TeamBank unterstützt das Projekt.
von  Abendzeitung

* weil sie Analphabeten sind. Im Südpunkt wurde jetzt das neue Lernzentrum eröffnet, in dem diesen Menschen geholfen wird. Die TeamBank unterstützt das Projekt.

NÜRNBERG „Ich finde es toll, dass ich lernen kann“, freut sich Frau Strauß (48). Ihr Vorname sei nicht wichtig, sagt sie. „Aber, dass ich jetzt nach einem Jahr lesen kann, das ist wichtig. Darauf bin ich stolz!“ Seit einem Jahr besucht sie die Alphakurse des städtischen Bildungszentrums (BZ).

Frau Strauß ist eine von 24.000 Nürnbergern, die nicht lesen und schreiben können. Gestern wurde das neue Alphazentrum im Südpunkt in der Pillenreuther Straße 147 eröffnet. Hier finden die Lese- und Schreibkurse statt. Mit dem Erlös aus der Opernball-Tombola, den die TeamBank auf 50.000 Euro aufgerundet hat, wurde die Ausstattung finanziert.

Als Kind einer Artistenfamilie hat Frau Strauß die Schule nur unregelmäßig besucht: „Wir sind mit dem Zirkus herumgewandert. Da bin ich zwar in vielen Schulen gesessen. Aber gelernt habe ich nichts.“ Kein Einzelfall. Immer wieder fallen Schüler durchs Raster. Sie haben zwar ihre Schulpflicht erfüllt. Doch im Lesen und Schreiben sind sie auf dem Stand eines Zweitklässlers. „Die werden mitgezogen, auch wenn sie schlecht lesen können. Viele Lehrer sind froh, wenn sie in einer Brennpunktschule bloß den Tag überstehen“, sagt BZ-Chef Wolfgang Eckart, der früher selbst Lehrer war. Einzelförderung? Fehlanzeige. Wenn sie ihre Schulpflicht erfüllt haben, müssen sich die Jugendliche durchs Leben schlagen. Buchstaben können sie zusammenpuzzeln. Aber bei mehreren Sätzen steigen sie aus.

"Ich konnte keine Bestellung aufschreiben"

So wie Frau Strauß, die einen Hilfsjob in einer Bäckerei hatte. „Ich konnte verkaufen. Mit Menschen komme ich gut zurecht“, erzählt sie. Das steht auch in ihrem Zeugnis. Wenn nur das Schreiben nicht gewesen wäre. „Ich konnte halt keine Bestellung aufschreiben. Da musste ich immer jemanden um Hilfe fragen.“

Junge Männer im Alter von 20 bis 35 Jahren und Frauen ab Mitte fünfzig sind die größten Besuchergruppen der Kurse. Dazu kommen Ausländer. „Unsere Teilnehmer erfüllen sich den großen Wunsch, endlich lesen und schreiben zu lernen“, weiß Ursula Brock, die die Kurse entwickelt hat. Auf Arbeitsblättern mit Bildern und Rätseln oder mit einfachen Computer-Programmen lernen die Erwachsenen schreiben. „Bei Kindern dauert es vier Jahre, bis sie es können. Erwachsene brauchen ähnlich lange“, sagt Brock. Und dann müssen sie regelmäßig trainieren: „Sonst ist alles schnell wieder vergessen.“

Sieben Teilnehmer lernen im Schnitt in einem Kurs. Außer dem Leiter betreuen sie Lerncoaches. Eine von ihnen ist Silke Ali (39) von der TeamBank. Denn Bank-Boss Theophil Graband unterstützt das Alphazentrum auch personell. Die Mitarbeiter werden für ihr Engagement freigestellt: „Es ist uns ein großes Anliegen, den Menschen durch diese Alphabetisierungs-Kurse die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen.“

Silke Ali ist seit März als Coach dabei. „Ich konnte mir nicht vorstellen, dass so viele Menschen weder lesen noch schreiben können“, sagt sie. Und, dass sie beim ersten Treffen „ganz schön aufgeregt war“. Inzwischen hat sie Routine und übt mit den Teilnehmern in kleinen Gruppen. Zudem ist ihr Wissen als TeamBankerin gefragt. Denn die Teilnehmer erhalten auch Lebenshilfe. BZ-Chef Eckart: „Dazu gehören Ernährungsberatung, Haushaltsführung, der Umgang mit Geld und das Vermeiden von Schulden.“

Anmeldungen sind täglich möglich

600 Teilnehmer absolvieren jährlich die Kurse. Zehn Einheiten kosten 50 Euro, bei vielen Betroffenen übernimmt die Arge die Gebühr. Anmeldungen sind täglich von 8 bis 20 Uhr im Südpunkt möglich.

Frau Strauß macht weiter. „Jetzt muss ich schreiben lernen“, gibt sie als ihr nächstes Ziel vor. Und wirbt für die Kurse. „Die Leute sollen sich trauen. Auch wenn sie das jetzt in der Zeitung nicht lesen können. Aber sie haben bestimmt Freunde. Wer einen kennt, der nicht lesen und schreiben kann, der soll ihm Mut machen, sich hier anzumelden.“

Michael Reiner

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