Thiago: Einer wie der Kaiser Franz

Der FC Bayern hat einen neuen Beckenbauer. Ballbehandlung, Spielverständnis, Souveränität und auch Arroganz: Die AZ vergleicht den Spanier mit dem legendären Libero
München - Sein Meisterstück lieferte er im Dauerregen ab, bei ungemütlichstem Winterwetter. Doch wer das Spiel beherrscht, der macht sich auch die widrigsten Umstände Untertan. Und so steigerte Bayerns Thiago seine Ballkontakte-Statistik beim 5:0 gegen Eintracht Frankfurt von Minute zu Minute. Bereits in der 73. Minute kam der Rekord-Gongschlag, da hatte er bereits die bisherige Bestmarke von Bastian Schweinsteiger (157) übertroffen.
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Am Ende standen unglaubliche 185 Ballkontakte, also mehr als zwei pro Minute. Zur Erklärung: Unter einem Ballkontakt versteht man den Zeitraum, in dem ein Spieler Ballkontrolle hat: Also die Kugel annehmen, kontrollieren, passen. Apropos Pässe: 159 Zuspiele zum Mitspieler sind ebenfalls neuer Ligabestwert, diesen führte zuvor Gladbach Roel Brouwers (137).
Solch Präsenz, solch Dominanz strahlte einst nur einer im Bayern-Trikot aus: Franz Beckenbauer. In den 60er und 70er Jahren wurden die Ballkontakte nicht gezählt, jeder Bayern-Angriff lief aus der Abwehr über den Chef, über den Libero, über Kaiser Franz. Dessen Spielweise gilt als unerreicht und unkopierbar. Die Lässigkeit und Arroganz am Ball, mit der Beckenbauer die Gegenspieler kleiner werden und dämlich aussehen ließ, hat lange Zeit seinesgleichen gesucht – und nun gefunden?
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In Thiago Alcántara do Nascimento, ein Name, der an Pélé erinnert, den großen Edson Arantes do Nascimento, kurz Pélé. Thiago, vor der Saison für 25 Millionen Euro Ablöse als absoluter Wunschspieler von Pep Guardiola („Thiago oder nix!“) zum FC Bayern gekommen, verzaubert mit seiner Leistung Fans, Reporter, Mitspieler und den Franz. „Thiago ist ein wunderbarer Spieler. Er ist eine Augenweide“, schwärmte Beckenbauer. Er muss es ja wissen.
Die AZ vergleicht die beiden Fußballer – Kaiser Thiago und Kaiser Franz.
Die Ballbehandlung: Der große Giesinger war Ballschlepper, liebte den Lupfer in die Spitze zu Gerd Müller. Gerne stieg er auf den Ball, streichelte die Kugel mit der Sohle. Sein Trick: Er verlangsamte das Spiel, um urplötzlich – meist mit dem Außenrist – einen Steilpass zu schlagen. Thiago dagegen spielt meist klare, einfache Bälle, kurze Pässe mit der Innenseite – das alles in höchstem Tempo. Sein Spiel hat mehr Dynamik als das von Beckenbauer damals (pardon, Kaiser!).
Das Spielverständnis: Beckenbauer hatte einen beeindruckenden Radar, nahm das Spielfeld als Schachbrett wahr, auf dem er meist ein bis zwei Spielzüge vorausdachte. Er gilt als der Erfinder des Liberos, der sich ins Spiel nach vorne einschaltet und die schnöden Ausputzer zu Auslaufmodellen machte. Thiago hat in der Barça-Schule das Kurzpassspiel verinnerlicht. In Italien als Sohn von Brasiliens 1994er Weltmeister Mazinho geboren, kam er mit 14 Jahren nach „La Masia“, in die Fußball-Schule des FC Barcelona. Sein Förderer dort: Guardiola. „Manchmal spielt er Fußball nicht einfach genug“, kritisierte der Coach seinen Liebling, „aber auf dieser Position braucht er oft nur ein, zwei Kontakte, immer nur ein, zwei Kontakte – du hast Philipp, der hilft dir.“ So ist Lahm der Neuzeit-Katsche, Thiago Hiwi.
Die Souveränität: Eleganz und Übersicht waren die Stilmittel des Spiels von Beckenbauer. Er verlor kaum einen Ball, auch im Zweikampf führte er die Kugel mit dem Außenrist – gute Freunde konnte niemand trennen. Beim 5:0 gegen Frankfurt war zu sehen, wie sich Thiago Spiel gegenüber den ersten Auftritten im August vor seiner Verletzung verändert hat. Jeder Ballkontakt ein Vergnügen, keine Anstrengung. Kopf oben, Brust raus, Gegner ausgespielt. Er will stets den Ball haben, aus brenzligen Situationen befreit er sich immer spielerisch – ein Befreiungsschlag auf die Tribüne? Für Thiago ein No-Go!
Die Arroganz: Keiner schüttelte Gegner lässiger ab als der Kaiser. Den Kopf behielt Beckenbauer immer oben, die Ballkontrolle lief so selbstverständlich ab wie das Geradeauslaufen. Im Pokalfinale 1969 gegen Schalke (2:1) jonglierte er 40 Sekunden mit der Kugel vor der Schalker Fankurve, kein Gegenspieler traute sich ran. Auch Thiago hat diese Prise Arroganz in seinem Spiel, dieses Selbstverständnis es ohnehin besser zu können als der Gegner.
Fehlt nur, dass Thiago bei der Meisterfeier im Mai von einem Weißbierglas auf die Torwand schießt. Vamos, Thiago, werd’ scho’!